Vor fünf Jahren erlaubte Belgien Sterbehilfe auch für Kinder

Warnungen vor einem Dammbruch

Als erste Länder weltweit erlaubten Belgien und die Niederlande 2002 die aktive Sterbehilfe. Seitdem haben die Fälle stark zugenommen – und auch der Kreis derjenigen, die sie in Anspruch nehmen, ist gewachsen. Die Kirche ist entsetzt.

Autor/in:
Christoph Arens
Mutter mit Kind / © Nancy Wiechec (KNA)
Mutter mit Kind / © Nancy Wiechec ( KNA )

Einer der jungen Patienten litt an der Lungenkrankheit Mukoviszidose. Ein zweiter hatte bösartige Tumore im Kopf, der dritte Muskelschwund. Mindestens drei Kinder und Jugendliche im Alter von 9, 11 und 17 Jahren haben in Belgien bislang aktive Sterbehilfe erhalten. Sie hätten unter unheilbaren Erkrankungen gelitten, die in kurzer Zeit zum Tod geführt hätten, hieß es im Bericht der Sterbehilfe-Kommission, der im August 2018 veröffentlicht wurde.

Keine Altersbegrenzung bei aktiver Sterbehilfe

Vor fünf Jahren, am 13. Februar 2014, stimmte das Parlament in Brüssel mit deutlicher Mehrheit für diese Liberalisierung. Seitdem gibt es dort bei aktiver Sterbehilfe keine Altersbegrenzungen mehr.

Die Debatte war heftig: Können Kinder die Dimension dieser Entscheidung begreifen?, fragten Kritiker. Lassen Angst und Schmerzen eine reife Entscheidung zu? Während die katholische Kirche zu einem Fast- und Gebetstag aufrief, lud die Sozialistische Partei in der Stadt Huy zu einem demonstrativen Festessen zugunsten des Gesetzesvorhabens ein.

2016 wurde die Neuregelung zum ersten Mal angewendet. Zum Glück gebe es nicht viele Kinder und Jugendliche in einer vergleichbaren Situation, erklärte damals der Vorsitzende der Kontrollkommission, der Onkologe Wim Distelmans. Das bedeute freilich nicht, "dass wir ihnen das Recht auf einen würdigen Tod vorenthalten dürfen". Der Vatikan zeigte sich entsetzt: Die Entscheidung wende sich nicht nur gegen die Empfindungen aller Religionen, sondern auch gegen den menschlichen Instinkt. Vor allem Minderjährige bräuchten psychologischen und spirituellen Beistand. 

Belgien ist bislang das einzige Land weltweit, in dem unheilbar kranke Kinder Sterbehilfe bekommen können - wenn sie das ausdrücklich verlangen und zu einer Einschätzung in der Lage sind. Der Wunsch des Kindes muss durch mehrere Experten bestätigt werden; auch die Eltern müssen zustimmen. In den Niederlanden ist Tötung auf Verlangen für Jugendliche über zwölf Jahre und für unheilbar kranke Neugeborene möglich.

Die Niederlande und Belgien hatten zuvor 2002 als erste weltweit aktive Sterbehilfe für Erwachsene legalisiert. Luxemburg folgte 2009.

Kinder, Demenzpatienten und Depressive

Kritikern wurde anfangs entgegengehalten, dass aktive Sterbehilfe nur in ganz engen Grenzen bei Erwachsenen erlaubt werde. Doch mittlerweile ist eine deutliche Ausweitung zu beobachten: Die Zahl der Fälle stieg; zugleich wurde der Kreis jener weiter gesteckt, die aktive Sterbehilfe in Anspruch nehmen können - auch Kinder, Demenzpatienten und Depressive etwa.

Gab es in Belgien im Jahr 2003 noch 235 Fälle von aktiver Sterbehilfe, so waren es 2017 bereits 2.309. Bei den meisten Patienten wurden Krebs oder eine Kombination von "schweren und unheilbaren Krankheiten" als Grund angegeben; in 40 Fällen aber auch psychische Leiden.

Schlagzeilen machte die belgische Regelung etwa, weil Menschen Tötung auf Verlangen in Anspruch nahmen, die nicht todkrank waren, wie das Gesetz es fordert. So erhielt ein transsexueller Mann Sterbehilfe, weil er mit seiner Geschlechtsumwandlung unglücklich war. Auch der Tod 45-jähriger Zwillinge sorgte für heftige Diskussionen. Die beiden von Geburt an tauben Männer drohten allmählich zu erblinden.

Katholische Bischöfe befürchten Dammbruch

Im März 2018 trat ein belgischer Arzt aus der Kontrollkommission aus. Auslöser war ein Demenzpatient, der aktive Sterbehilfe erhielt und für den es dem Arzt zufolge keine Patientenverfügung gab. Der Patient sei auf Wunsch der Familie getötet worden, kritisierte er.

Auch der Europäische Menschenrechtsgerichtshof befasst sich derzeit mit einem Fall: Die Mutter des Belgiers Tom Mortier erhielt 2012 aktive Sterbehilfe aufgrund psychischer Leiden. Die Angehörigen wurden erst nach dem Tod informiert. Laut Sohn war die Mutter aber gar nicht unheilbar krank: Sie habe lediglich an vorübergehenden psychische Erkrankungen gelitten.

Nach Meinung der katholischen Bischöfe Belgiens droht ein Dammbruch: Bei Demenzkranken etwa könnte es "soweit kommen, dass die Euthanasie ganz einfach die allgemeingültige Lösung würde - aus Mitleid", warnten sie. Auch Sterbehilfe für Minderjährige könnte als "normal" erscheinen, sobald die jeweilige Krankheit erst einmal allgemein als "unannehmbar" gelte.


Quelle:
KNA