DOMRADIO.DE: Welche Rolle spielen die Christen in der Türkei?
Nadim Ammann (Referatsleiter "Hilfe für die Mission" des Erzbistums Köln): Die Christen spielen eigentlich keine große Rolle in der Türkei. Sie sind eine sehr kleine Gruppe von 0,1 Prozent. Umso präsenter sind sie aber und freuen sich an ihrem Dasein. Ich war jetzt zu meiner dritten Dienstreise in der Türkei und muss sagen, dass ich eine sehr lebendige, junge und dynamische Kirche erlebt habe.
DOMRADIO.DE: Das heißt, Sie haben nicht erlebt, dass Christen bedrängt wurden?
Ammann: Nein, zumindest hat es keiner in dieser Form geäußert. Man hört ja immer ganz unterschiedliche Dinge. Während die orthodoxen Kirchen – die griechisch-orthodoxe Kirche oder die armenisch-orthodoxe Kirche – anerkannte Kirche sind, ist die katholische Kirche in der Türkei nicht anerkannt. Das führt dann mit sich, dass bestimmte Dinge nicht möglich sind. Aber es gibt auch große Freiheiten.
DOMRADIO.DE: Welche zum Beispiel?
Ammann: Zum Beispiel für die Caritas. Das heißt, dass sie ohne große staatliche Kontrolle tätig sein kann. Die Caritas betreibt eigene Büros in den drei Diözesen. Es gibt die Diözese in Anatolien, die sozusagen den ganzen hinteren Teil der Türkei abdeckt. Dann gibt es die Erzdiözese Izmir und das Apostolische Vikariat in Istanbul. Es gibt dort jeweils eine diözesane Caritas. Natürlich liegt ein großer Schwerpunkt der Arbeit jetzt auf der Flüchtlingshilfe. Es sind viele Flüchtlinge aus dem Irak und Syrien in der Türkei. Da finden diverse Programme statt: Überwinterungshilfe, Medikamentenhilfe, Kleidungsvergabe und so weiter. Das kann die Caritas da ganz gut bewerkstelligen.
DOMRADIO.DE: Sie haben die Flüchtlinge angesprochen. Sie sagen 0,1 Prozent, also ein geringer Teil der in der Türkei lebenden Menschen, sind Christen. Das ist aber eine Zahl, die im Moment steigt. Das hat auch mit der Flüchtlingssituation zu tun. Warum?
Ammann: Ein Beispiel ist die chaldäische Kirche. Diese war im Irak sehr stark präsent. Vor dem Krieg, vor der Krise mit dem IS, lag die Zahl der chaldäischen Christen in der Türkei bei vielleicht 1.200 bis 1.500 Mitgliedern. Jetzt sind es knapp 50.000 Christen. Da ist ein deutlicher Zuwachs zu verspüren.
Die Flüchtlinge in der Türkei sind zum Teil schon seit sieben Jahren da. Sie warten aber auf eine Weiterreise in ein Drittland. Kein irakischer Christ hat eigentlich vor, in der Türkei zu bleiben. Aber wenn man so lange da ist, sucht man einen Anschluss und ist dann mit einer Kirche verbunden.
DOMRADIO.DE: Sie haben die geflüchteten Christen auch selber besucht. Wie ist die Stimmung bei denen? Wie sieht ein Gottesdienst aus?
Ammann: Ich habe ganz unterschiedliche Gemeinden besucht. Die erste, die ich besucht habe, war in Samsun am Schwarzen Meer. Das war an einem Samstag und da wuselten ganz viele Kinder herum und hatten Katecheseunterricht. Ich hatte den Eindruck, dass es den Christen im Großen und Ganzen dort gut geht. Sie scheinen froh zu sein, dass es da eine offene Kirche gibt.
Es ähnelt in der Türkei ein bisschen dem Vorgehen in Deutschland: Man wird als Flüchtling zugewiesen und wohnt dann meistens in einem Ort, in dem es normalerweise keine Kirche gibt. Nur in ganz wenigen Ortschaften gibt es Kirchen, wie in Samsun. Dort sind zwei argentinische Franziskaner vor Ort, die sich um diese Christen kümmern.
Das ist dann auch im Gottesdienst recht interessant, weil die irakischen Christen ja aus Ostkirchen kommen und eine andere Form der Liturgie kennen. Der Priester ist aber ein römisch-katholischer Priester. Insofern zelebriert er den römisch-katholischen Gottesdienst. Sie haben sich aber ganz gut darauf verständigt, eine Misch-Liturgie zu machen. Das heißt, sie singen ihre Lieder, die sie kennen, auf Aramäisch, weil sie den Kern der Gemeinde bilden. Also hier hat man den Eindruck, dass es den Christen ganz gut geht.
Ich habe in Istanbul aber auch mit Christen gesprochen, die illegal da sind. Sie fühlten sich in den Dörfern, die ihnen zugewiesen worden sind, nicht gut. In Istanbul kann man noch illegal Arbeit finden. Denen geht es entsprechend. Auf der anderen Seite sind sie total dankbar, dass es die Kirche gibt. Da sind insbesondere die Salesianer zu nennen, die quasi ein offenes Jugendzentrum haben. Da können sie jedes Wochenende abends hingehen. Sie können sich dort wohlfühlen, vor allem aber auch sicher fühlen.
DOMRADIO.DE: Welche Rolle spielen denn die Katholiken grundsätzlich? Es gibt ja in vielen Gemeinden der Bistümer keine Diözesanpriester.
Ammann: Das ist richtig. Die Seelsorge wird von den Ordensgemeinschaften betrieben. Das ist historisch schon so, dass die Kirchen Eigentum der Orden sind. Die Kapuziner zum Beispiel sind historisch sehr stark präsent in der Türkei. Die Franziskaner sind da, die Dominikaner, die Jesuiten, die Salesianer. Die haben ihre Kirchen, die sie schon seit sehr langer Zeit betreuen und stellen da auch den Nachwuchs. Das heißt, würde es zum Beispiel eine örtliche Berufung eines konvertierten Türken geben, dann würde er klassischerweise einem Orden beitreten, weil er auch nichts anderes kennt. Das ist die Situation in der Türkei.
Die drei aktuellen Bischöfe sind allerdings durchaus daran interessiert, einen lokalen Klerus aufzubauen. Wie allerdings, wissen Sie noch nicht ganz genau. Aber sie wollen die Berufungen, wenn es denn welche gibt, auch stärker unter die Lupe nehmen, um zu gucken, ob man nicht langfristig auch eigene türkische Priester für eine türkische Kirche stellen kann.
DOMRADIO.DE: Wenn die Türkei im Moment in den Schlagzeilen erwähnt wird, sind es in der Regel nicht die besten Schlagzeilen. Es geht um Einschränkungen der Pressefreiheit und der Meinungsfreiheit. Es geht um Übergriffe und Probleme aller Art, die mit Erdoğans Regierung verbunden sind. Hat das in irgendeiner Form bei Ihrer Reise eine Rolle gespielt, wenn Sie mit den Christen gesprochen haben?
Ammann: Eigentlich nur am Rande. Die Christen, vor allen Dingen die Flüchtlinge und die afrikanischen Studenten, haben mit ihren Alltagsproblemen zu tun. Wenn man als afrikanischer Student zum Beispiel einer Universität im Landesinneren zugewiesen wird, wo es keine offene Gesellschaft gibt, hat man mit Alltagsrassismus zu tun. Das ist dort leider eine ganz normale Sache, die es zum Teil auch von türkischen Christen gegenüber Afrikanern gibt.
Ein anderer Aspekt war aber auch durchaus spürbar. Man konnte merken, dass sich viele Gedanken über die wirtschaftliche Situation machen. Momentan scheint man einigermaßen über die Runden zu kommen. Aber es stehen Wahlen an. Nach den Wahlen gehen alle davon aus, dass sich die wirtschaftliche Situation verschlechtern wird, weil dann die Realität nochmal zuschlägt. Aber grundsätzlich hatte ich den Eindruck, dass die Mitarbeiter der Kirche so mit der Alltagsproblematik, ihren Aufgaben der Flüchtlingsbetreuung, der Seelsorge und der Katechese beschäftigt sind, dass diese politischen Themen, die uns hier im Ausland und in Europa beschäftigen, eigentlich für sie kein so ganz großes Thema darstellen.
Das Interview führte Renardo Schlegelmilch.