KNA: In Italien hat die Regierung sämtliche Gemeindegottesdienste verboten, um die Ausbreitung des Coronavirus einzudämmen. Wäre ein solcher Schritt auch in Deutschland möglich?
Prof. Dr. Christian Hillgruber (Direktor des Instituts für Kirchenrecht an der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn): Grundsätzlich ja. Die rechtliche Grundlage dafür ist das sogenannte Infektionsschutzgesetz, das an die Stelle des Bundesseuchengesetzes getreten ist. Das Infektionsschutzgesetz erlaubt nach Paragraph 28, Absatz 1 Schutzmaßnahmen. Zu diesen Schutzmaßnahmen gehört, unter bestimmten Voraussetzungen Veranstaltungen oder sonstige "Ansammlungen einer größeren Anzahl von Menschen", wie es dort wörtlich heißt, zu beschränken oder zu verbieten, um einer Verbreitung des Krankheitserregers entgegenzuwirken.
KNA: Sind damit auch Gottesdienste gemeint?
Hillgruber: Aus der Begründung des Regierungsentwurfs zu dieser Vorschrift ergibt sich eindeutig, dass damit nicht nur politische Versammlungen oder Freizeitbetätigungen - etwa Konzertbesuche - erfasst sind, sondern grundsätzlich auch religiöse Veranstaltungen wie Gottesdienste.
KNA: Wer kann denn ein solches Verbot erlassen?
Hillgruber: Das Infektionsschutzgesetz spricht nur von der zuständigen Behörde. Welche das ist, bestimmen die Länder. In Nordrhein-Westfalen liegt die Zuständigkeit bei den Städten und Gemeinden als örtlichen Ordnungsbehörden - so auch bei den "Geisterspielen" in der Bundesliga, bei denen die örtlichen Behörden Fußballvereinen verboten haben, Besucher ins Stadion zu lassen.
KNA: Wäre ein Versammlungsverbot auch über eine Ausrufung des Notstands möglich?
Hillgruber: Die Frage stellt sich mit Blick auf den Kampf gegen Corona nicht. Der Notstand, der aus der Gefahr einer massiven Ausbreitung des Virus erwüchse, kann und soll mit Hilfe von Maßnahmen nach dem Infektionsschutzgesetz abgewendet werden.
KNA: Der Heilige Stuhl hat mit Deutschland und einzelnen Bundesländern Konkordate geschlossen, die das Verhältnis zwischen katholischer Kirche und Staat regeln. Wirken sich diese Verträge in irgendeiner Weise auf das Infektionsschutzgesetz aus - oder mit anderen Worten: Würde die katholische Kirche im Ernstfall anders behandelt als die evangelische Kirche?
Hillgruber: Nein. Es geht um einen Eingriff in die Religionsfreiheit, aber aus Gründen, die religionsneutral sind. Die Motivation, aus der heraus sich Menschen versammeln, spielt dabei unter dem Aspekt des Schutzes der Gesundheit keine Rolle.
KNA: Trotzdem - die Religionsfreiheit steht unter einem besonderen Schutz der Verfassung.
Hillgruber: Sie ist aber einschränkbar aus Gründen, die selbst Verfassungsrang haben. Dazu gehört der Schutz von Leib und Leben.
Allerdings muss auch bei Maßnahmen, die dem Gesundheitsschutz der gesamten Bevölkerung dienen sollen, der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit gewahrt bleiben.
KNA: Was heißt das?
Hillgruber: Eine religiöse "Grundversorgung" muss gewährleistet sein. Es gibt auch nach katholischem Verständnis Notstandssituationen, in denen die Pflicht, die Sonntagsmesse zu besuchen, entfällt. Das gilt sicher im Grundsatz auch für die aktuelle Lage. Aber im Einzelnen wird man sehen müssen, wie weit solche Verbote reichen können, um mit der Religionsfreiheit kompatibel zu sein. Es wird deswegen nicht einfach sein, ein über mehrere Wochen dauerndes Verbot sämtlicher Gottesdienste zu begründen.
KNA: Könnten denn Gemeinden, Bistümer oder Landeskirchen gegen ein eventuelles Verbot Einspruch einlegen?
Hillgruber: Die Betroffenen können dagegen den Verwaltungsrechtsweg beschreiten. Widerspruch und Anfechtungsklage entfalten allerdings keine aufschiebende Wirkung. Aber grundsätzlich gilt: Keine staatliche Maßnahme muss widerstandslos hingenommen werden.
KNA: Gläubige Zeitgenossen rufen gerade jetzt zum Gang in Gotteshäuser auf.
Hillgruber: Abgesehen davon, dass es ja darum gehen muss, die Zahl von Neuinfizierten zu begrenzen, haben sich die Zeiten offensichtlich geändert. In jenen Jahrhunderten, in denen die Menschheit von den schrecklichsten Seuchen wie der Pest heimgesucht wurde, sind eher mehr als weniger Messen gelesen worden, weil man sich gerade in solchen Situationen von Gott Rettung versprochen hat. Es wird interessant sein festzustellen, ob sich jetzt ein ähnliches Bedürfnis regt.
Das Interview führte Joachim Heinz.