KNA: Können Sie verstehen, wenn alte Menschen nun wegen der Corona-Epidemie fürchten, bei einer Überlastung des Gesundheitssystems nicht mehr bestmöglich behandelt zu werden?
Prof. Eberhard Schockenhoff (Freiburger Moraltheologe): Wir sind von Krisenszenarien noch sehr weit entfernt. Das deutsche Gesundheitssystem ist auch für außergewöhnliche Herausforderungen gut gerüstet. Wir haben Reserven für Notsituationen, etwa für große Unfälle oder für Naturkatastrophen - und nun auch für eine Pandemie. Zudem zielen alle Maßnahmen gerade darauf, die Ausbreitung des Coronavirus zu verlangsamen, und damit eine Überlastung der medizinischen Infrastruktur zu verhindern.
KNA: Rechtfertigt dieses Ziel drastische Maßnahmen wie die Einschränkungen der Versammlungs- oder der Bewegungsfreiheit und die Schließung von Geschäften?
Schockenhoff: Man muss genau abwägen. Aber in Ausnahmefällen kann es richtig und geboten sein, individuelle Rechte zugunsten des Gemeinwohls zurückzustellen. Zudem sollten wir die Interessen des Einzelnen nicht als Widerspruch zum Gemeinwohl verstehen: Denn das Gemeinwohl ist letztlich die Gesamtheit der Bedingungen, unter denen die Einzelnen ihr individuelles Wohlergehen miteinander erreichen können.
KNA: Jetzt sind sogar Gottesdienste und religiöse Versammlungen verboten.
Schockenhoff: Das Verbot von Gottesdiensten und Versammlungen in Moscheen und Synagogen sollte zeitlich auf das unumgängliche Maß begrenzt bleiben. Auch sollten Kirchen nicht verschlossen werden, so dass die Gläubigen sie wenigstens als Orte des persönlichen Gebets aufsuchen können
KNA: Im Regelfall muss sich die medizinische Versorgung am Wohl jedes einzelnen Kranken ausrichten. Könnte dieses Prinzip in Krisenzeiten ins Wanken geraten?
Schockenhoff: Nur in absoluten Notlagen, etwa in Kriegszeiten. Wenn medizinische Behandlungsgüter und Behandlungsmöglichkeiten extrem knapp werden, kann es als letzter Ausweg zu einer Priorisierung von medizinischer Hilfe und Therapie kommen. Und damit zur Entscheidung, bestimmte Patientengruppen nicht mehr behandeln zu können.
KNA: Was meint hier die Theorie der "Triage", abgeleitet vom französischen Verb "trier", das sortieren und aussuchen bedeutet?
Schockenhoff: Im Extremfall könnten so Kranke in drei Gruppen aufgeteilt werden: Erstens solche, die so schwer verletzt oder erkrankt sind, dass sie auch bei sofortiger Hilfe nur äußert geringe Heilungsprognose hätten; zweitens jene, die eine sehr gute Heilungschance haben, selbst wenn die Behandlung aufgeschoben wird; und drittens eine mittlere Gruppe, wo die Chance, dass sie geheilt werden können, vor allem dann besteht, wenn man ihnen sofort hilft.
In Kriegszeiten handelten Ärzte so, aber in den vergangenen Jahrzehnten standen wir zum Glück nie vor einer solchen Situation, und kommen hoffentlich auch nicht dahin.
KNA: Bedeutet dies aber nicht auch, dass Mediziner und Pflegekräfte im absoluten Ausnahmefall nach wertem und unwertem Leben unterscheiden müssten?
Schockenhoff: Nein, überhaupt nicht! Es geht in dieser Theorie allein um eine Einstufung und Abwägung anhand der Prognose, wie aussichtsreich eine Therapie ist. Es werden auch keine allgemeinen Aussagen gemacht, etwa im Sinne, dass das Leben eines 80- oder 90-Jährigen nicht mehr lebenswert wäre.
Das Prinzip der Triage bezieht sich ausschließlich auf das Kriterium der Erfolgsaussicht einer Behandlung. Alter darf kein Ausschlusskriterium für eine Behandlung sein. Sondern nur die Prognose, dass keine Aussicht auf Heilung besteht, etwa aufgrund von Vorerkrankungen oder wenn der Allgemeinzustand durch das Zusammentreffen verschiedener Erkrankungen bereits extrem geschwächt ist.
Das Interview führte Volker Hasenauer.