"Anbu Illam" bedeutet in der indischen Regionalsprache Tamil "Haus der Liebe". Der Name ist Programm. Denn seit 1991 realisiert der Orden der Salesianer Don Boscos mit diesem Projekt in Chinnai – früher Madras und an der Ostküste Indiens gelegen – die Vision, Kindern einen Raum zu geben, in dem sie ihre Kindheit unbeschwert erleben und sich frei entwickeln können, ohne diskriminiert zu werden. Das ist nicht leicht in einer Stadt, die zu den aufstrebenden Metropolen dieses Landes gehört, aber mit über acht Millionen Einwohnern und als Hauptstadt des Bundesstaates Tamil Nadu auch viele soziale Probleme hat. Denn in Chennai leben Luxus und Armut Tür an Tür.
Allein der Fluss Adyar trennt die beiden Welten voneinander: Nur einen Katzensprung vom Grandhotel entfernt beginnen die Slums von Chennai, in denen die leben, die nichts haben und nichts gelten. Denn obwohl in Indien das Kastensystem offiziell abgeschafft ist, dominiert es dennoch das öffentliche Leben. Die Kaste bestimmt über das Leben der Menschen, die – wenn sie hinduistischen Glaubens sind – von der Geburt bis zum Tod an ihre gesellschaftliche Schicht gebunden bleiben, damit einer strengen Rangordnung unterliegen und – je nach Kastenzugehörigkeit – sozial ausgegrenzt bleiben.
Eine neue Perspektive für das eigene Leben gewinnen
In dieser Stadt großer Gegensätze hat Jan Schlüter nach seinem Abitur elf Monate als "Volunteer" gearbeitet. Vier Vorbereitungsseminare bei den Bonner Salesianern, die er sich als Dachorganisation gezielt für seinen Freiwilligendienst ausgesucht hatte, waren notwendig, bis sich beide Seiten gut kennengelernt hatten und der Orden aus einem Pool möglicher Projekte weltweit dann das passende für den damals 19-Jährigen auswählte. Denn in mehr als 130 Ländern sind heute etwa 16.000 Salesianer Don Boscos aktiv. Die weltweit vernetzten Ordensbrüder sind gefragte Profis in der ganzheitlichen Entwicklungszusammenarbeit. In rund 7.000 Einrichtungen vermitteln sie schulisches und berufliches Wissen sowie praktische Fähigkeiten und fördern junge benachteiligte Menschen in ihrer kreativen, körperlichen und sozialen Entfaltung.
"Es wird genau geschaut, welches Projekt aktuell personelle Unterstützung benötigt", erinnert sich Schlüter, der mittlerweile in Köln Maschinenbau studiert und nun über die Medien nur noch von außen auf dieses Land schauen kann, in dem Corona für die Ärmsten der Bevölkerung deren Kampf ums Überleben noch einmal extrem verschärft hat. Ursprünglich hatte ein Auslandseinsatz in Afrika auf seiner Wunschliste ganz oben gestanden, aber ob Indien oder Afrika – entscheidend sei letztlich für ihn die Option gewesen, sich sozial engagieren zu können, so berichtet er, Einblick in ein komplett anderes Leben zu bekommen und in eine fremde Kultur einzutauchen. Und das mit dem Gedanken, vor allem auch über den eigenen Tellerrand hinauszuschauen, die eigene Komfortzone zu verlassen, um eine neue Perspektive für das persönliche Leben mit den üblichen und auch bequemen Standards zu gewinnen.
Bildung ist der Schlüssel zur Zukunft
Wie Menschen Wohlstand in einem ganz anderen Teil der Welt definieren, hat er dann im "Anbu Illam" erfahren, wo er mit den Salesianer-Patres zusammengelebt und deren Alltag geteilt hat. Das Kinderheim für Jungen, in dem Waisen leben oder Kinder aus den Elendsvierteln, die von ihren Eltern nicht ernährt werden können, oft aus diesem Grund auch ausgesetzt werden und dann auf der Straße zu überleben versuchen, besteht aus verschiedenen Gebäuden für die je unterschiedlichen Altersgruppen. Die Sechs- bis Zwölfjährigen leben unter einem Dach zusammen, dann die 13- bis 18-Jährigen und auch die Jugendlichen über 18 Jahre, die schon studieren und arbeiten.
Projektleiter ist Father Joseph, der für diese „Shelter-Homes – es gibt neben der Einrichtung für die Jungen außerdem noch ein Mädchenheim – verantwortlich ist, wozu auch die religiöse Erziehung der Jugendlichen gehört. Das Engagement der Salesianer ist eine Form der Krisenintervention, die langfristig Kindern in schwierigen Situationen helfen, ihnen tragfähige Beziehungen in einer sicheren Umgebung anbieten und Schulbildung ermöglichen will. Denn Bildung ist auch in Indien der Schlüssel zur Zukunft.
Wer arm ist, stirbt mangels medizinischer Versorgung
"In der ganzen Stadt gibt es Anlaufstellen für Straßenkinder", erklärt Jan Schlüter, der in der Betreuung von Freizeit- und Sportangeboten für die Jungen und der Hausaufgabenbetreuung mitgearbeitet, sie darüber hinaus aber auch auf ihren täglichen Schulwegen begleitet hat. Außerdem könne Tag und Nacht eine "Childline" angerufen werden, sagt er, über die dann an die Don Bosco-Einrichtungen Meldung gemacht wird, wenn wieder einmal ein elternloses Kind irgendwo im Armenviertel zwischen Abfallbergen und Wellblechhütten und damit im Niemandsland einer unübersichtlichen Großstadt aufgegriffen wurde.
Hier offenbart mitunter ein Blick hinter die Fassade das abgrundtiefe Elend von Kindern, die in eine Gesellschaft hineingeboren werden, in der die Schwächsten und Benachteiligten angesichts von Überbevölkerung, Armut, mangelnder Hygiene, einer schlechten Infrastruktur und einem unzureichenden Bildungssystem auf der Strecke bleiben und vom Staat einfach vergessen werden. "Alles das zusammen bedeutet für mittellose Menschen eine Abwärtsspirale, die ihnen früher oder später zum Verhängnis wird. Wer in Indien wirklich arm ist, stirbt, weil kein Gesundheitssystem nach westlichem Standard greift", so der ehemalige Volunteer.
Trotz Elends klaglos nach Lösungen suchen
Auch regelmäßiger Zugang zu Wasser sei neben der medizinischen Versorgung ein Luxusgut, erklärt er. Erstrecht angesichts der hohen Temperaturen um die 40 Grad, einer Luftfeuchtigkeit von mehr als 70 Prozent und immer viel Staub. "Man bekommt für Dinge, die zuhause selbstverständlich sind, hier aber keineswegs zur Normalität gehören, einen völlig neuen Blick." Das sei für ihn eine wichtige Lernerfahrung gewesen, die ihn heute für vieles dankbarer mache, was in Deutschland einfach problemlos funktioniere.
Gleichzeitig habe ihn beeindruckt, wie die Menschen in Indien stets klaglos nach Lösungen suchten und Missstände nicht groß dramatisierten. Vielmehr liege in ihrer Art der Problembewältigung immer auch ein gewisser Charme. Eines steht für den Studenten nach dem Jahr in Chinnai jedenfalls fest: "Ich fühle mich sehr bereichert und vermisse die vielen Kinder, die mir richtig ans Herz gewachsen sind."