Justus Raasch hat allen Grund, mit der Corona-Krise zu hadern. Auf ein Jahr Freiwilligeneinsatz im Büro für Öffentlichkeitsarbeit und Fundraising der Bethlehem-Universität hatte er sich eingestellt. In dieser Zeit wollte er Land und Leute kennenlernen, die kulturelle, soziale und politische Vielfalt einer Region erkunden, in der drei Weltreligionen ihren Ursprung haben. Unzählig viele Fragen hatte er im Gepäck – angesichts der kulturellen, sozialen und politischen Besonderheiten, wie er sagt. Und ein großes Herz für ein spannendes und in seiner Vielfalt so reiches Land.
Doch von jetzt bis gleich musste der 20-Jährige seinen Dienst abbrechen und nach sechs Monaten das Heilige Land vorzeitig – fast fluchtartig – verlassen. Groß Zeit zum Abschiednehmen blieb da nicht. Corona machte von einem Tag auf den anderen alle Pläne zunichte, in der zweiten Hälfte des Auslandsjahres nach Kurztrips in die Wüste, ans Rote und Tote Meer, nach Tel Aviv sowie auf die Golan-Höhen auch noch die Städte der Westbank – Hebron, Nablus, Nazareth und Jericho – zu besuchen. So jedenfalls war es mal die Idee gewesen. Im Nachhinein kann Justus von Glück sagen, dass er Anfang März, als das ganze Ausmaß der Pandemie weltweit noch überhaupt nicht absehbar war, gerade im letzten Moment noch den einen der beiden Checkpoints der Stadt passieren konnte.
Ausgangssperren für Bethlehem zum Schutz vor Corona
Denn schon Stunden später war Bethlehem für die kommenden Wochen von allen Seiten hermetisch abgeriegelt. Bis auf Weiteres hätte der junge Mann während des Lockdowns festgesessen: ohne Beschäftigung – denn die Uni war als erste geschlossen worden – und die Aussicht, die Wohnung, die er sich mit zwei anderen Freiwilligen teilte, dauerhaft für mehr als Lebensmitteleinkäufe verlassen zu können. Die Häufung erster Corona-Fälle hatte wohl den Verdacht in der Bevölkerung Bethlehems genährt, das Virus sei von Touristen eingeschleppt worden. Was zu einer gewissen Skepsis gegenüber Touristen führte. So berichtet es Justus Raasch.
"Anfangs haben wir die Tragweite der Gefahr gar nicht ernst genommen. Doch an dem Tag, als in der Westbank der Notstand ausgerufen wurde, wir viel Blaulicht sahen und Mitarbeiter des Gesundheitsamtes überall auf der Straße Fieber maßen, war uns klar, dass wir so schnell wie möglich nach Israel rüber mussten, um nicht völlig isoliert zu werden. Schließlich wurde die Stimmung zusehendes ungemütlicher, während sich die Nachrichtenlage von Tag zu Tag verschlechterte."
"Der Glaube wird geradezu anfassbar in diesem Land"
Mit einem Freund verbrachte der Abiturient schließlich ein langes Wochenende zur Überbrückung am Meer in Haifa, das sich zunächst wie Urlaub anfühlt. Noch immer hoffen die beiden, die im vergangenen August zu einem Freiwilligeneinsatz über den Deutschen Verein vom Heiligen Land eingereist sind, dass sie schon bald wieder an ihren Arbeitsplatz zurück können und die restriktiven Maßnahmen nur vorübergehend gelten. Denn Justus liebt seine Aufgaben an der Bethlehem-Uni. Hier kümmert er sich um Besuchergruppen, führt durch das Gebäude und vermittelt Kontakte zu den Studierenden; eine Aufgabe im Bereich der Öffentlichkeitsarbeit, die ihm Freude macht.
Doch die äußere Situation ist zunehmend belastender geworden und war bald nicht mehr auszublenden. "Wir haben lange dafür gebraucht, den Ernst der Lage zu realisieren." Inzwischen überbrücken die beiden Deutschen nach Rücksprache mit dem Heilig-Land-Verein in Köln weitere Zeit im Kloster in Tabgha. Dort folgten zunächst zwei Wochen in Quarantäne, die auf gefühlten zehn Quadratmetern Lebensradius bewältigt werden mussten, so Justus. Entschädigt werden sie durch die Aussicht auf den See Genezareth und die Aura dieses magischen Ortes voller biblischer Geschichten. "Dass Jesus über das Wasser gegangen ist oder dem Sturm gebietet, lässt sich hier wirklich nachvollziehen", sagt er rückblickend. "Der Glaube wird geradezu anfassbar in diesem Land. Man sieht Jesus förmlich entlang der kargen Berghänge mit seinen Jüngern laufen. Kein Wunder, dass zwei Milliarden Menschen ihren christlichen Glauben an diesen Stätten festmachen."
An keinem anderen Ort habe er bislang so oft und so intensiv Gespräche über Gott und seinen eigenen Glauben geführt. "Die ständige Präsenz von Christentum, Judentum oder Islam verleiht diesem Land seine besondere Energie. Dem kann man sich gar nicht entziehen. Das macht etwas mit einem."
Zwischen sozialem Einsatz, Freizeitaktivitäten und religiösem Leben
Der Wunsch nach einem Auslandsjahr in Israel und Palästina war bei dem Lübecker Schüler bei einer Projektfahrt in der Jahrgangsstufe 11 entstanden. "Noch nie konnte ich zuvor bei einer Reise so viele Eindrücke gewinnen. Die Reichhaltigkeit an Unterschieden hat mich total geflasht. Damals habe ich mich in dieses Land schockverliebt. Mir war sofort klar, ich will nach dem Abi unbedingt dorthin zurück." Er habe so viele Fragen gehabt und sei – anstelle auf Antworten – auf immer neue Fragen gestoßen. "Das ist, als öffne man die Büchse der Pandora. Ich wollte immer noch mehr von diesem Land entdecken. Das hatte etwas von einer Sogwirkung."
Beim Deutschen Verein vom Heiligen Land (DVHL), der pro Jahr bis zu 25 Freiwillige in die vereinseigenen, aber auch kooperierenden Einrichtungen entsendet – zum Beispiel in die Schmidt-Schule in Ost-Jerusalem oder die Dormitio-Abtei, nach Tabgha in die Jugend- und Behindertenbegegnungsstätte "Beit Noah", nach Kiriat Tivon ins "Dorf der Hoffnung" oder eben an die Bethlehem-Universität – fühlt sich der Schulabgänger aus Schleswig-Holstein mit seinem Anliegen entsprechend gut aufgehoben. Denn im Freiwilligenalltag zwischen sozialem Einsatz, Freizeitaktivitäten und religiösem Leben sammeln die DVHL-Freiwilligen wertvolle Erfahrungen, die oftmals prägend für ihr weiteres Leben sind.
Politische Bildungsarbeit und Völkerverständigung
Etwa zehn verschiedene Einsatzorte kann Susanna Schüller, beim DVHL zuständig für internationale Freiwilligendienste, an die Interessierten vermitteln. Trotz der immer wieder aufbrechenden politischen Konflikte sei Israel unter den "Top five" der angesagten Entsendeziele von Freiwilligendiensten, erklärt sie. "Unser Ziel ist politische Bildungsarbeit und einen Begriff wie Völkerverständigung mit Leben zu füllen. Die vielen Impulse, die die Freiwilligen durch die Zusammenarbeit mit Menschen aus dem Nahen Osten, aber auch durch Begleitseminare ihrer Entsendeorganisation bekommen, ermöglichen ihnen, ihre Perspektive zu erweitern und fördern das Verständnis für diese Region."
Jeweils bis November muss sich beim Deutschen Verein vom Heiligen Lande beworben haben, wer das Freiwilligenjahr ab dem darauffolgenden Sommer antreten will. Zuvor aber findet ein Wochenende zum Kennenlernen mit ausführlichen Gesprächen statt, um nach der Motivation der Bewerber zu fragen, aber auch um herauszufinden, welcher Arbeitsbereich der breiten Angebotspalette zu wem am besten passen könnte.
Auch hinter der Referentin liegt coronabedingt eine aufregende Zeit. Insgesamt 30 Freiwillige musste nämlich der DVHL im Frühjahr in einer bislang in der Geschichte des Vereins einmaligen Rückholaktion aus Israel ausfliegen lassen. Täglich war die Kölner Geschäftsstelle damit beschäftigt, die sich ständig ändernden Reiseregelungen des Auswärtigen Amtes zu checken und vor allem engen Kontakt zu den Freiwilligen vor Ort zu halten, um sie in ihrer Ungewissheit nicht allein zu lassen und organisatorische Absprachen – auch mithilfe des Deutschen Vertretungsbüros in Ramallah – zu treffen.
Mitarbeit an einer großen Fundraising-Kampagne
Für Justus ist mit seinem Aufenthalt im Heiligen Land ein Traum in Erfüllung gegangen. Auch wenn ihn der Gedanke an die überstürzte Abreise noch Monate später mit Wehmut erfüllt. Sobald es geht, will er wieder zurück nach Israel und dann alles Versäumte nachholen. "Richtig Abschied zu nehmen von meinem Lebensumfeld auf Zeit, in dem ich sechs Monate total glücklich war, ist mir ein tiefes Bedürfnis", sagt er und stellt sich vor, dass ihm auf jeden Fall alle Erfahrungen im Heiligen Land eines Tages für ein mögliches politisches Engagement in der NGO-Arbeit, die er als Langzeit-Perspektive ins Auge fasst, zugute kommen.
Im Moment jedenfalls schätzt er sich glücklich, dass er die Corona-Zeit mittlerweile für ein dreimonatiges Praktikum in der Öffentlichkeitsarbeit des Vereins in Köln nutzen und hier an einer großen Fundraising-Kampagne für Stipendien, die an palästinensische Studierende der Bethlehem-Uni vergeben werden, mitarbeiten kann. "Es ist ein Geschenk, daran mitwirken zu dürfen, mit dem Thema Bildung der hohen Arbeitslosigkeit in der Westbank etwas entgegenzusetzen und dort für junge Menschen nach ihrem Studium eine Job-Perspektive zu schaffen", betont er.
Liebe auf den ersten Blick, die auch in Krisenzeiten trägt. Das ist für Justus nach einem Wechselbad der Gefühle während des letzten Vierteljahres vielleicht eine der wesentlichsten Erfahrungen, die er diesem so einmaligen Land verdankt.