Dekan beschreibt Atmosphäre in Hanau ein Jahr nach dem Anschlag

Die offenen Fragen verunsichern

Vor einem Jahr sind in Hanau neun Menschen bei einem rassistischen Anschlag ermordet worden. Offene Fragen zum Tatgeschehen und der Aufklärung verunsichern die Bevölkerung der hessischen Stadt noch immer, so Dekan Martin Lückhoff.

Gedenken an die Opfer des Anschlags von Hanau / © Boris Roessler (dpa)
Gedenken an die Opfer des Anschlags von Hanau / © Boris Roessler ( dpa )

DOMRADIO.DE: Ein Jahr ist dieser Anschlag in Hanau jetzt her. Wie haben Sie damals von dieser Tat erfahren?

Dr. Martin Lückhoff (Hanauer Dekan der Evangelischen Kirche von Kurhessen-Waldeck): Ich habe von Freunden aus den USA nachts davon erfahren. Der Anschlag hat die Stadtgesellschaft und mich völlig überraschend getroffen. Noch am 18. Februar hätten alle auf die Frage "Können Sie sich einen rassistischen Anschlag in Hanau vorstellen?" entrüstet gesagt: "Das kann in Hanau nicht passieren."

Entsprechend groß war die Betroffenheit und der Schock, als dann in der Nacht vom 18. auf den 19. die entsprechenden Meldungen über den Nachrichtenticker eingingen. Wir haben sehr früh die Pfarrerinnen und Pfarrer, die als Notfallseelsorger die ganze Nacht über im Einsatz waren, zusammengerufen, um dann voneinander zu hören, was passiert ist und wie wir zeitnah helfen können.

DOMRADIO.DE: Wie blicken Sie jetzt, nach einem Jahr auf die Stadt?

Lückhoff: Zunächst einmal steht die Stadt noch immer unter Schock. Man merkt die fehlenden Antworten auf die Fragen, die vor allem die Opferfamilien stellen: Was ist passiert? Wie konnte es dazu kommen? Sind möglicherweise in der Aufarbeitung Fehler gemacht worden?

Das sind Aspekte, die zu einer Unruhe und einer Verunsicherung führen. Manche Teile der Bevölkerung sind traumatisiert. Wir merken, wie wichtig es ist, auch immer wieder gut miteinander ins Gespräch zu kommen. Leider schränkt Corona dabei erheblich ein.

DOMRADIO.DE: Sie haben die Fehler angesprochen, die möglicherweise passiert sind. Sind die ein großes Thema für die Stadt Hanau?

Lückhoff: Das verunsichert stark. Zu den offenen Fragen gehört es, wieso eins der Opfer, das mehrfach den Notruf 110 wählte, auf der anderen Seite der Leitung niemanden erreicht hat. Es ist zunächst mal ein nachvollziehbares Anliegen, wenn jemand versucht, die Polizei über den Notruf zu erreichen, dass auf der anderen Seite jemand herangeht.

Ob dieser junge Mann noch leben könnte, wenn auf der anderen Seite ein Polizist oder eine Polizistin an die Leitung gegangen wäre? Das ist eine der vielen Fragen, von denen sich die Menschen hier eine Antwort erhoffen, damit sie auch gut und friedlich miteinander leben können.

DOMRADIO.DE: Versammlungen sind wegen der Corona-Pandemie nicht möglich. Welche Gedenkaktionen sind heute trotzdem geplant?

Lückhoff: Es gibt kleine Gedenkfeiern. Wir bieten kirchlicherseits Friedensgebete und offene Kirchen an, damit Menschen, die es zu Hause nicht aushalten, Orte finden, an denen sie sich zum Gebet versammeln können, eine Kerze anzünden können und wo sie ihrer Trauer einen Ort geben können. Natürlich findet viel auch im digitalen Netz statt.

Auf der Facebook-Seite des Kirchenkreises Hanau gibt es die Möglichkeit, über ein Sharepic (Anm. d. Red.: Ein Bild-Text-Element, das in den Sozialen Medien leicht weiterverbreitet werden kann.) digital eine Kerze anzuzünden, die dann in der Hanauer Marienkirche, der Innenstadt-Kirche, analog angezündet wird. Natürlich gibt es über den Hashtag #HanauStehtZusammen die Möglichkeit, sich in ein Kondolenzbuch einzutragen.

DOMRADIO.DE: Mit dem Gedenken heute ist die Verarbeitung der Geschehnisse nicht abgeschlossen. Was planen Sie für die Zukunft?

Lückhoff: Natürlich erleben wir die aktuelle Situation als Gestaltungsauftrag. Wir merken auch, dass der nächste Schritt sein muss, dass wir raus aus der Trauer kommen und versuchen, gemeinsam im Gespräch zu schauen: Was braucht diese Gesellschaft, um zukünftig gut miteinander leben zu können und Zukunft zu gestalten? Da haben wir mehrere Ansätze. Zum einen haben wir ein großes Jugendzentrum, das seit Jahrzehnten exzellent arbeitet und das auch nahe eines Tatorts liegt. Da haben wir verstärkt investiert.

Wir sind außerdem dabei, verstärkt das interreligiöse Gespräch mit muslimischen Gemeinden zu suchen, um auch einander wahrzunehmen und voneinander zu hören. Wie lebt ihr? Wie kann im Wissen voneinander Hanau lebens- und liebenswert bleiben? Natürlich geht es darum, sensibler zu werden für Fragen, die Rassismus betreffen. Das sind auch Fragen der Bildung und der Bildungsarbeit.

Das Interview führte Carsten Döpp.


Hanau: Eine offizielle Gedenktafel mit den Fotos der neun Opfer / © Boris Roessler (dpa)
Hanau: Eine offizielle Gedenktafel mit den Fotos der neun Opfer / © Boris Roessler ( dpa )

Ein riesiges Wandgemälde des Künstlerkollektivs "Kollektiv ohne Namen" erinnert in Bruchköbel an die Opfer der rechtsextremen Mordanschläge von Hanau.  / © Boris Roessler (dpa)
Ein riesiges Wandgemälde des Künstlerkollektivs "Kollektiv ohne Namen" erinnert in Bruchköbel an die Opfer der rechtsextremen Mordanschläge von Hanau. / © Boris Roessler ( dpa )
Quelle:
DR
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