"Corona", sagt Thorsten Latzel, "ist die Stunde der Kreativen." Der evangelische rheinische Präses wird nicht müde, dies an jeder Station seiner Besuchsreise zu bekräftigen. Aufmerksam hört der 50-Jährige zu, was sich die Verantwortlichen in Kirchengemeinden haben einfallen lassen, um Menschen während der Lockdown-Zeiten zu erreichen.
Radtour von Saarbrücken bis zum Niederrhein
Latzel, seit gut hundert Tagen der leitende Geistliche der Evangelischen Kirche im Rheinland (EKiR), tritt seit vergangenen Dienstag in die Pedale, um seine Kirche vom Süden in Saarbrücken bis an den Niederrhein buchstäblich zu erfahren.
An Tag sechs seiner Rad-Reise ist eine Gemeinde im Kölner Süden eines der Zwischenziele. Pfarrer Gerald Warnecke und seine Ehrenamtlichen berichten, wie sie einen spirituellen Stadtpilgerweg mitten im Viertel zwischen Rheinufer und einem Bouleplatz hinter einem Grill-Imbiss konzipiert haben.
Die Strecke ist in sieben Stationen unterteilt, an der die Pilger Fragen gestellt bekommen. "Was ist dein Wurf?" lautet die Frage am Bouleplatz, bevor das Spiel beginnt. Die erste Runde gewinnt Latzel. Die zweite eine junge iranische Christin.
Sie hat vorher berichtet, wie sie zum Glauben fand. "Immer wieder anfangen können, auch wenn ein Wurf nicht weit genug reicht, das ist auch im Glauben so", kommentiert Latzel das Spiel.
"Sommertour der Hoffnung"
"Sommertour der Hoffnung", hat der neue Präses seine Radreise genannt. Vor sechs Wochen erst ist er auf die Idee gekommen. "Es geht mir darum, Hoffnungeschichten zu sammeln", sagt er und fügt hinzu: "Wir bringen nicht den Glauben zu den Leuten, sondern wir entdecken Gott bei ihnen. Das gibt Mut."
Die evangelische Kirche im Rheinland, nach der hannoverschen die zweitgrößte der 20 evangelischen Landeskirchen, hat 2,2 Millionen Mitglieder. Das EKiR-Gebiet überschneidet sich mit fünf katholischen Bistümern. Einer der Bischöfe wäre gern mitgefahren, aber die Zeit passte nicht.
Kirche habe das "Zu-Gast-sein" verlernt
Es geht wieder aufs Rad. Heute überlässt Latzel sein E-Bike einem Mitarbeiter seiner Pressestelle, der an jeder Zwischenetappe die Kamera auspackt und live auf Youtube streamt. Latzel ist passionierter Radler und tritt in die Pedale. Oft fährt er weit voraus.
In Köln-Mülheim trifft er auf die "Beymeister", ein Projekt, das 25- bis 40-Jährige ansprechen soll, die die Kirche auf traditionellen Wegen kaum erreicht. Zu den Menschen zu gehen heißt für Mitgründerin Miriam Hoffmann, ihnen mehr Regie anzuvertrauen: "Jesus hat nicht eingeladen, er war zu Gast. Das hat die Kirche verlernt." Sie und Pfarrerin Janneke Botta wollen mit Menschen über deren Erfahrungen mit Gott sprechen.
Die ganz aus Holz bestehende Immanuel-Kirche im weiter nördlich gelegenen Stadtteil Stammheim hat 2015 den Deutschen Architekturpreis bekommen. Die Gemeindemitglieder haben während Corona "Blind Dates" zwischen Menschen arrangiert, den grasbewachsenen Vorplatz zum Treffpunkt mit Kaffee und Spielen gemacht und tausende kleine Papierkraniche zum Weitergeben gefaltet - und sie haben ein Testzentrum in einen Raum der Kirche geholt.
"Hoffnungstalks": Gespräche mit verschiedenen Menschen
Abends, beim Zieleinlauf im Jugendbildungszentrum "Hackhauser Hof" in Solingen, hat Latzel knapp 80 Kilometer zurückgelegt und wie jeden Tag sieben Projekte besucht. Es schließt sich ein "Hoffnungstalk" an - ein Gespräch zwischen Latzel und Menschen aus unterschiedlichen Bereichen.
Darunter sind die Klima-Aktivistin Leonie Jöster von der Bewegung "Fridays for Future", die Dominikanerin Schwester Ursula Hertewich, der Autor und Forstexperte Peter Wohlleben sowie die Schauspielerin und Präsidentin der Kölner Stunksitzung, Biggi Wanninger. Heute spricht Latzel mit dem Welpentrainer Andre Vogt. Auch die "Hoffnungstalks" werden live auf Youtube gestreamt.
Am Dienstag bricht Latzel zu seiner letzten Etappe auf. Dann geht es den Niederrhein entlang von Moers nach Wesel. Am Ende wird der Präses 40 Gemeinden in acht Tagen besucht und 600 Kilometer zurückgelegt haben.