Das Erdbeben von Lissabon an Allerheiligen 1755

Die Frage nach dem Leid in der Welt

Dieses Ereignis erschütterte die Kultur der Aufklärung nachhaltig – das Erdbeben von Lissabon an Allerheiligen im Jahr 1755. Denn die Katastrophe warf die Theodizeefrage neu auf: Warum lässt Gott das Leid zu?

Autor/in:
Edgar Schnicke
Ruinen des alten Klosters Carmo in Lissabon / © Alessandro Cristiano (shutterstock)
Ruinen des alten Klosters Carmo in Lissabon / © Alessandro Cristiano ( shutterstock )

"Häuser, Kirchen und Türme stürzen ein. Der königliche Palast wird vom Meere verschlungen. Die geworfene Erde scheint Flammen zu speien. Überall meldet sich Rauch und Brand in den Ruinen. 60.000 Menschen gehen miteinander zugrunde – und der Glücklichste darunter ist der zu nennen, dem keine Empfindung, keine Besinnung über das Unglück mehr gestattet ist." Noch 50 Jahre nach dem großen Erdbeben von Lissabon erinnert sich Goethe in seinen Aufzeichnungen an die Schreckensmeldungen aus seiner Kinderzeit.

Drei Beben zerstörten die portugiesische Hauptstadt fast vollständig

Am 1. November 1755 um 9.40 Uhr Ortszeit erschüttert ein gigantischer Erdstoß die Metropole. Kurz darauf folgt ein weiteres Beben. Paläste, Brücken und vollbesetzte Kirchen stürzen in sich zusammen. Viele Menschen, die an Allerheiligen den Gottesdienst besuchten, werden verschüttet.

Eine dritte Erschütterung versetzt der Perle am Tejo, wie Lissabon auch genannt wird, den Todesstoß. Das Epizentrum des Erdbebens liegt einige hundert Kilometer vor der Küste im Bereich der Azoren. Daher sorgt es mehr für den apokalyptischen Schlussakkord. Lissabon wird von bis zu 15 Meter hohen Tsunamiwellen überrollt, die das gesamte Areal fluten. Man nimmt an, dass 60.000 der etwa 250.000 Einwohner ihr Leben verlieren.

Marquês de Pombal - der Mann der Stunde

"Was zu tun ist? Begrabt die Toten und sorgt für die Lebenden!" Marquês de Pombal, der erste Minister Portugals, entpuppt sich als Mann der Stunde. Er verhängt das Kriegsrecht über die Stadt. Plünderer und Diebe werden ohne Verzug per Standgericht verurteilt. In den Ruinen lässt er Behelfsquartiere für die Verletzten errichten. Pombal treibt den Wiederaufbau voran. Kein Haus darf ohne seine Genehmigung errichtet werden. Er schreibt die Größe von Fenstern und Türen und die Höhe der Bauten vor. Für die Wände wird eine spezielle Fachwerktechnik entwickelt. Die Balken balasten bei einem Beben das Mauerwerk.

Zur Erfassung der Schäden sendet Pombal Fragebögen an alle Kirchengemeinden. So erhält er genaue Angaben über Zeitpunkt, Länge und Stärke des Bebens sowie die Zahl der Verletzten und Toten. Für Pombal ist das Beben ein Naturphänomen. Entsprechend rational geht er die Bewältigung der Katastrophe an. Die Bewohner Lissabons sind nach der Katastrophe angsterfüllt.

Das Beben als Strafe Gottes?

Aufgewühlte Priester deuten das Beben als Strafe Gottes und beschwören das nahe Ende der Welt. Das ganze christliche Europa – das massive Beben ist auf dem gesamten Kontinent zu spüren – ist in den Grundfesten seines Denkens und vor allem seines Glaubens erschüttert.

Goethe hält in seinen Erinnerungen fest: "Gott, der Schöpfer und Erhalter des Himmels und der Erden, den die Erklärung des ersten Glaubensartikels so weise und gnädig vorstellte, hatte sich, indem er die Gerechten mit den Ungerechten gleichem Verderben preisgab, keineswegs väterlich bewiesen".

Auswirkungen auf das Theodizee-Problem

Voltaire schreibt kurz nach der Katastrophe: "Oh unglückselige Menschen, bejammernswerte Erde, unsinniger Leiden, unaufhörliche Qual. Betrogene Philosophen, ihr schreit: Alles ist gut! Kommt her und seht die grässlichen Ruinen, verstreute Glieder unter Marmortrümmern. Wie einen Gott sich denken, der die Güte selbst den Kindern, die er liebt, die Gaben spendet und doch mit vollen Händen übel auf sie gießt."

Voltaire gibt damit seinen christlichen Glauben auf und wird einer der Wegbereiter der modernen atheistischen Weltanschauung. Mit den betrogenen Philosophen klagt Voltaire den deutschen Denker Gottfried Wilhelm Leibniz an, der in seinen Theodizee 1710 festgehalten hatte: "Unsere Welt ist die beste aller möglichen Welten. Sie besitzt einen maximalen Reichtum von Momenten und in diesem Sinne die größtmögliche Mannigfaltigkeit."

Immanuel Kant: Kein Recht die Natur zu besitzen

Jean-Jacques Rousseau ist so erbost darüber, dass er Voltaire die Freundschaft kündigt: "Täuschen Sie sich nicht darin, mein Herr. Es entsteht das Gegenteil von dem, was Sie sich vornehmen. Dieser Optimismus, den Sie so grausam finden, tröstet mich doch in eben dem Leiden, das Sie mir als unerträglich darstellen."

Der deutsche Philosoph Immanuel Kant kommt zu dem Schluss: "Der Mensch ist nicht geboren, um auf der irdischen Schaubühne der Eitelkeit ewige Hütten zu erbauen. Alle diese Verheerungen scheinen uns zu erinnern, dass die Güter der Erde unserem Triebe zur Glückseligkeit keine Genugtuung verschaffen können. Die Betrachtung solcher schrecklichen Zufälle ist lehrreich. Sie demütigt den Menschen dadurch, dass sie ihn sehen lässt. Er habe kein Recht, von den Naturgesetzen, die Gott angeordnet hat, lauter bequemliche Folgen zu erwarten."

So sorgte das Erdbeben von Lissabon für eine neue Betrachtung der Frage, wie Gott das Leid in der Welt zulassen kann.


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Quelle:
DR
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