Instrumentalmusik füllt die Sankt Michael Kirche, mal orientalisch, mal futuristisch. Dazu gesellen sich das Klingen von Glühweintassen und das Gemurmel vieler Menschen. Ihre Augen sind auf ein etwa vier Meter hohes, durchsichtiges Kuppelzelt inmitten der Kirche gerichtet. Befestigt ist es auf einem runden Podest, der Manege. In der Kuppel steht ein Bett, darin liegt ein Mann. Eine Frau sieht ihn an. Sie bewegt sich nur langsam und mit Bedacht. Beide tragen Flügel, die mit Federn bedeckt sind. Gekleidet sind sie ganz in weiß, eingehüllt in blaues Licht.
Die Zeit verlangsamen und das Herz berühren
Seit einigen Wochen ist die neugotische Kirche Schauplatz des internationalen Cirque Bouffon. Kirchenbänke wurden gegen Stuhlreihen und eine Manege ausgetauscht. Der Auftritt reiht sich ein in das Konzept der dort beheimateten und im vorigen Jahr gegründeten neuen Gemeinde "Kirche für Köln", die mit innovativen Projekten und experimentellen Gottesdiensten junge Menschen anzusprechen versucht.
Das Motto des Zirkus – "Die Zeit verlangsamen und das Herz berühren" – stehe auch für den Glauben, findet Diakon Ulrich Merz, der zur geistlichen Leitung der Gemeinde gehört. "Das ist genau das, was Religion machen sollte, wenn sie gut ist." Religion sei immer eine Unterbrechung des Alltags und sollte Herz und Seele berühren. "Das versuchen auch die Artistinnen und Artisten", so Merz.
Programm auf Sankt Michael zugeschnitten
Die hellen Töne verwandeln sich in dunkle Klänge, die Musik wird lauter und schwerer. Einer Prozession ähnlich ziehen die fünfzehn Artistinnen und Artisten von allen Seiten in die Mitte der Kirche ein. Die kräftige Stimme von Anja Krips, Mitbegründerin des Cirque Bouffon, erfüllt den Raum. Sie trägt ein rotes langes Gewand, in ihren Händen hält sie eine Sanduhr, die Zeit läuft. In der Kuppel steigt Rauch auf. In dem Nebel verschwinden die Künstlerinnen und Künstler, die Show beginnt.
Das Weihnachtsprogramm des Cirque Bouffon sei extra für Sankt Michael erstellt worden, sagt Krips: "Wir sind nicht unbedingt christlich, haben aber gemerkt, dass wir eine Verbindung zu diesem Ort haben. Wir sind nicht einfach Fremde, die hier etwas machen." Von der ersten Begehung bis zur Fertigstellung der Show seien mehr als zwölf Monate vergangen. Der geplante Start habe sich wegen der Corona-Pandemie um ein Jahr verzögert. Im Laufe der Zeit sei ein gemeinschaftliches Projekt entstanden. "Wir bespielen die gesamte Kirche, aber immer mit dem nötigen Respekt", sagt die Sängerin.
Zirkus, der verzaubern will
Ein Clown rast auf Rollschuhen durch Gänge, ein Künstler lässt Seifenblasen in die Höhe steigen, Luftakrobatinnen bewegen sich entlang eines Seiles. Im nächsten Moment tritt eine Artistin vor das Publikum, in der Hand hält sie ein qualmendes Weihrauchfass. Der Duft umhüllt die Zuschauerinnen und Zuschauer. Mal spielt jemand Ziehharmonika, dann erklingt die Orgel. In einigen Momenten der Show ist die Kirche mit ihren typischen Elementen ganz präsent, dann verschwinden diese wieder hinter der Mischung aus Artistenzirkus, Tanz, Theater und Komik.
Die Idee von "Kirche für Köln" ist ein Zirkus, "der verzaubern will, in einer Kirche, die verwandeln will". Alle seien willkommen, unabhängig von sexueller Orientierung, Lebensform oder Herkunft. In die Gottesdienste der Gemeinde kämen auch Leute, "die aus der Kirche ausgetreten sind, die hier aber wieder eine Heimat finden, nach der sie sich sehnen", erklärt Diakon Merz. Die Feiern seien etwas Besonderes, mit Powerpoint-Predigten, christlicher Popmusik und Show.
Manegen-Gottesdienst am Heiligen Abend
Kirche interessant machen für alle Menschen, das versucht das Team auch an Weihnachten. Denn der Gottesdienst an Heiligabend werde unter Beteiligung des Cirque Bouffon stattfinden. "Es ist sozusagen ein Gottesdienst in der Manege, auf der Bühne des Zirkus", so Merz.
Für diesen Abend betreten die Artisten und Künstlerinnen ein letztes Mal die Bühne. Die Musik und der Schlussapplaus fließen ineinander.
Im Publikum sind junge Leute, alte Menschen, Familien mit Kindern.
Die Reihen leeren sich. Ob sie wiederkommen, wenn die Kirche keine Manege mehr ist, bleibt ungewiss.