DOMRADIO.DE: Mariam, als wir uns das letzte Mal kurz nach Ihrem Abitur sprachen, hatte Corona gerade alle Ihre Pläne durchkreuzt. Ihren Wunsch aber, über die Organisation "Jesuit Volunteers" nach Griechenland zu gehen, wollten Sie um keinen Preis aufgeben. Nun hat es mit einem neuen Anlauf geklappt. Wie kam es dazu?
Mariam Ammann (Absolventin eines Freien Internationalen Jahres über die "Jesuit Volunteers"): Damals ging pandemiebedingt gerade gar nichts und ich war sehr enttäuscht. Um die Zeit zu überbrücken, habe ich dann erst einmal mit Erziehungswissenschaften in Köln begonnen. Trotzdem wollte ich mich von dem Vorhaben eines Freien Sozialen Jahres im Ausland nicht endgültig verabschieden. Und als es dann in diesem Sommer grünes Licht dafür gab, war ich total happy. Zum Glück nämlich sollten die Auslandseinsätze innerhalb Europas stattfinden – anders als die auf anderen Kontinenten zum Beispiel in Kambodscha oder Indien, die aus Gründen der Sicherheit gestrichen werden mussten. Am Ende waren wir allerdings nur fünf Volontäre, die nach Bosnien, Bulgarien, Lettland oder den Kosovo entsandt wurden. Viele von den sonst 20 Bewerberinnen und Bewerbern waren wegen Corona abgesprungen. Dafür hatten wir übrigen dann ganz intensive und wirklich tolle Vorbereitungsseminare, zum Teil online, aber zum Teil auch in Präsenz, bei denen wir viel über unser Einsatzland, die fremde Kultur, aber auch die Stereotypen gelernt haben – also über Klischees, die wir als Deutsche manchmal im Kopf haben und die uns oft bei der Begegnung mit Fremden im Weg stehen.
Natürlich spielten auch sehr grundsätzliche Themen wie globale Ungerechtigkeit, Fragen der Sicherheit, Verhaltensweisen bei einem Notfall und sogar das Thema "Liebe im Ausland" eine Rolle. Außerdem wurde auch nochmals das Entsendungsprinzip der Jesuiten deutlich, nach dem ganz genau geschaut wird, wer in welches Projekt passen könnte. Ich hatte zum Beispiel ursprünglich aufgrund meiner familiären Wurzeln vor, nach Ägypten zu gehen. In der Organisation hat man dann aber erkannt – ganz unabhängig davon, dass dieses nordafrikanische Land nicht unseren Sicherheitsansprüchen genügt – dass ich nach Griechenland, wo es einige Projekte mit Flüchtlingen gibt, mit meiner kreativen Veranlagung und auch meiner Sprachbegabung sehr viel besser passe. Heute weiß ich, dass das genau die richtige Entscheidung war und da jemand sehr viel Weitsicht bewiesen hat.
DOMRADIO.DE: Was genau machen Sie denn nun in Athen?
Ammann: Ich arbeite beim "Jesuit Refugee Service" – kurz JRS genannt – mit. Das ist ein zur Unterstützung von geflüchteten Menschen gegründetes Projekt und setzt sich aus fünf unterschiedlichen Bereichen zusammen. Dazu gehören im Einzelnen das "Magazi", eine Art Kleiderkammer, wie wir in Deutschland sagen würden, wo an Geflüchtete kostenlos Kleiderspenden, die wir selbst geschenkt bekommen, abgegeben werden. Allerdings kann hier kein Essen ausgegeben werden, weil wir das schlichtweg nicht haben, was sich viele in ihrer Not aber wünschen würden. Nur Milchprodukte für Babys und Kleinkinder sowie Pampers sind manchmal dabei, wenn uns so etwas gerade als Spende überlassen wurde. Dann gehört zu dem JRS das "Women Day Center", in dem Frauen unsere Waschmaschinen und Duschen benutzen und auch an Workshops teilnehmen können, wenn sie geimpft sind, um auch ein Stück Normalität und unbeschwerten Alltag zu erleben. Gleichzeitig dienen sie den Teilnehmerinnen als Treffpunkt, wo sie mal auf andere Gedanken kommen. Außerdem gibt es das "Pedro Arrupe Center", benannt nach unserem Gründer; hier können Kinder, die zur Schule gehen – was noch lange nicht alle Flüchtlingskinder tun – Unterstützung bei den Hausaufgaben bekommen und darüber hinaus an Freizeitangeboten teilnehmen.
In sogenannten "Magistories" findet für Geflüchtete jeder Altersgruppe Sprachunterricht in Griechisch, Englisch, Deutsch und Französisch statt. Ich gebe zum Beispiel einen Grundkurs in Englisch für Erwachsene, was mir große Freude macht, aber auch sehr anstrengend ist, weil ich im Grunde ja keinerlei Vorbildung dafür mitbringe – außer dass ich selbst ganz gut Englisch spreche. Und zuletzt gibt es noch den "Victoria Square", eine Art Park bei uns in der Nähe, wo wir dreimal in der Woche mit den Kindern Spiele machen und sie von ihrem tristen Alltag für ein paar Stunden abzulenken versuchen. Da werden wir immer schon sehnsuchtsvoll erwartet. Denn man muss wissen, dass diese Gegend so etwas wie ein sozialer Brennpunkt ist. Hier gibt es eine hohe Kriminalitätsrate und viele Drogenabhängige. Die meisten Familien haben kein Dach über dem Kopf, selbst bei der Kälte halten sich die Kinder – oft ohne Schuhe, weil sie keine besitzen – draußen auf. Die hygienischen Zustände, die an Verwahrlosung grenzen, sind katastrophal. Aber diese Menschen sind eben völlig mittellos, so dass sie ihre Situation auch nicht aus eigener Kraft verändern können. Und die Stadt wiederum kümmert sich nicht ausreichend. Das ist kein Vergleich mit Deutschland. In Greichenland bekommen diese Menschen kein Geld vom Staat, um überleben zu können.
DOMRADIO.DE: Was macht eine solche Not mit Ihnen, wenn Sie oft tatenlos zusehen müssen und es für diese Flüchtlinge nicht wirklich eine Perspektive gibt?
DOMRADIO.DE: Diese Ohnmacht ist schwer auszuhalten. Gerade regnet es viel in Athen, und da ist es schon sehr schwer mitanzusehen, wie diese kleinen Kinder, manchmal Babys, unter solchen menschenunwürdigen Zuständen leiden, nicht warm genug angezogen sind und auch kein wirkliches Zuhause haben, eher campieren. Ich sehe viel Leid, und das macht mich sehr traurig. Man muss ja immer bedenken, dass diese Menschen oft auch eine dramatische Fluchtgeschichte hinter sich haben. Die meisten kommen aus Afghanistan, dem Kongo oder Kamerun, manche auch aus Somalia oder eben auch aus Syrien. Zunächst sind sie auf griechischen Inseln gestrandet, bevor sie hierher gebracht wurden, und nun wollen sie eigentlich weiter nach Mitteleuropa, am liebsten nach Deutschland, weil sie glauben, dass sie dort eine Zukunft für ihre Familie haben. Sie warten auf die Genehmigung ihres Asylantrags, wissen in der Zwischenzeit aber nicht, wie sie ihre Kinder ernähren sollen.
Positiv ist, dass wir Volontäre für sie zu Vertrauenspersonen geworden sind und ihnen ganz offensichtlich ein Gefühl von Sicherheit vermitteln. Mittlerweile kennen sie uns, und die Kleinen freuen sich auf uns, wenn wir zum Spielen kommen – auch weil es eine Abwechslung in ihrem kargen und entbehrungsreichen Leben ist und sie für einen Moment lang unbeschwert Kind sein können. Aber mir persönlich geht jedes Schicksal sehr nah, erst recht, wenn natürlich eine Bindung entsteht. Das ist sehr hart und eigentlich auch die größte Herausforderung an dieser Arbeit, gerade weil mir das so zu Herzen geht, auch wenn ich versuche, nicht alles an mich herankommen zu lassen. Aber das gelingt ja meist nicht. Außer uns und ein paar anderen NGOs kümmert sich niemand um diese hilflosen Menschen. Ihre auswegslose Lage mit ansehen zu müssen, ist sehr frustrierend. Gerade Kinder sollten so nicht leben müssen. Manchmal bin ich emotional einfach total erschöpft.
DOMRADIO.DE: Woraus beziehen Sie selbst Ihre Kraft weiterzumachen?
Ammann: Ich sehe, dass wir etwas bewirken. Unser Einsatz ist nicht umsonst. Es geht um die Stabilisierung von Menschen, die etwas erlebt haben, was wir uns oft nicht annähernd vorstellen können, und daher meistens auch posttraumatische Symptome zeigen. Viele hängen völlig in der Luft, weil sie nicht wissen, wie es für sie weitergeht und ob sie jemals Athen wieder verlassen werden. Es herrscht große Hoffnungslosigkeit, und da halten wir dann dagegen. Außerdem entstehen natürlich Beziehungen, denn ich mag alle diese Menschen, mit denen ich im Unterricht arbeite und die sich große Mühe geben, wirklich etwas lernen zu wollen. Aber selbst wenn nicht, dann tut ihnen allein schon der Kontakt untereinander oder aber auch der mit uns gut, selbst wenn wir uns nicht immer verständigen können. Aber dann behelfen wir uns mit Händen und Füßen.
DOMRADIO.DE: Wie macht sich bei Ihrer Arbeit denn die Pandemie bemerkbar?
Ammann: Vieles kann im Moment so, wie wir es ursprünglich geplant haben, gar nicht stattfinden. Die freiwilligen Bildungsangebote können nur mit Geimpften und wenigen Teilnehmern – und das nur draußen – stattfinden. Und die Angebote für die Kinder sind gerade ganz gestoppt, weil auch diese in der Regel im Freien stattfinden, zumal die Kinder nicht geimpft sind, die Witterung das aber zurzeit nicht zulässt. Die Bewegungs- und Bastelangebote fallen also gerade alle ersatzlos aus. Nun versuchen wir die Schüler unter ihnen wenigstens mit Arbeitsblättern zu versorgen – in der Hoffnung, dass sie zuhause selbständig damit arbeiten. Wir müssen ja sehr auf Hygieneregeln achten, damit unsere Arbeit nicht zu einem Superspreading wird. Ich selbst befinde mich nach einer Coronaerkrankung gerade in häuslicher Quarantäne, bin völlig isoliert von meiner kleinen WG, zu der neben zwei anderen Mitvolontärinnen auch Steyler Schwestern gehören, und bekomme dreimal am Tag mein Essen vor die Tür gestellt, um andere nicht anzustecken. Ich weiß beim besten Willen nicht, wo ich mich infiziert habe. Aber natürlich kann das jederzeit jedem passieren.
DOMRADIO.DE: Hatten Sie sich Ihren Auslandseinsatz so vorgestellt?
Ammann: Der Leitsatz der Jesuiten lautet: Einfach und bewusst leben. Darauf war ich vorbereitet, und das macht mir auch nichts aus. Es ist ein sehr gemischter Lifestyle. Natürlich muss ich hier auf viele Annehmlichkeiten verzichten. Mein Zimmer ist recht klein, und auch sonst ist alles auf die Befriedigung von Grundbedürfnissen ausgerichtet. Aber meine WG gefällt mir gut; das Zusammenleben in der Community funktioniert prima. Wir haben einen guten Zusammenhalt. Schwierig ist für mich vielmehr die Hilflosigkeit und Ohnmacht angesichts der Not, die ich bei den Flüchtlingen wahrnehme. Meine Möglichkeiten sind da sehr begrenzt; wir können nun mal nicht jedem helfen. Aber das zu akzeptieren ist schwer. Denn gerade die Kinder, die ja nichts dafür können, dass sie in diese Armut, Not und Auswegslosigkeit hineingeboren wurden, tun mir sehr leid.
Andererseits gibt es auch viele schöne Momente. Gleich an meinem ersten Arbeitstag auf dem Victoria Square bin ich einem kleinen afghanischen Mädchen begegnet, das genauso heißt wie ich. Wir hatten sofort einen Draht zueinander, obwohl ich kein Farsi spreche, aber seitdem sehen wir uns immer wieder. Das Leuchten in Mariams Augen, wenn sie mich sieht, das macht mich einfach glücklich.
DOMRADIO.DE: Wie schwer ist es, jetzt zu Weihnachten nicht daheim bei Ihrer Familie sein zu können?
Ammann: Ich wusste im Vorfeld, dass ich ein Jahr lang nicht nach Hause fahren würde. Das gehört zu diesem Einsatz dazu. Natürlich wird es hier ein ganz anderes Weihnachten geben – auch weil unsere Flüchtlinge ja größtenteils keine Christen sind. Und finanzielle Mittel, um groß Geschenke zu besorgen, gibt es auch nicht. Trotzdem freue ich mich auf ein interkulturelles Weihnachtsfest. In unserer WG werden wir international kochen und uns von unseren heimischen Bräuchen erzählen. Und auch bei der Musik wird sicher jeder etwas aus seinem Herkunftsland beisteuern. Das wird bestimmt sehr bunt und fröhlich.
Insgesamt ist mein Einsatz in Griechenland einfach eine sehr wertvolle Erfahrung für mich. Ich komme halt aus einem Teil der Welt, in dem Frieden herrscht und wir auf der Sonnenseite des Lebens stehen. Das macht demütig und dankbar. Aber hier erlebe ich eben auch, dass ein solches Leben ohne äußere Not nicht selbstverständlich ist. Ich bin mir sicher, dass mich alles, was ich in diesem Jahr hier lerne, einen Schritt weiterbringen wird. Es ist ja nicht nur die Begegnung mit anderen Kulturkreisen, sondern man lernt auch, Verständnis aufzubringen für Verhaltensweisen von Menschen, die so ganz anders sind und wirklich auch Furchtbares durchgemacht haben. Das macht einen sehr nachsichtig und auch geduldig.
Das Interview führte Beatrice Tomasetti.