DOMRADIO.DE: In diesem Jahr ist die Jahreslosung ein Vers aus dem Johannesevangelium: "Wer zu mir kommt, den werde ich nicht abweisen". Können Sie uns diesen Vers erklären?
Thorsten Latzel (Präses der Evangelischen Kirche im Rheinland): Ja, in der Lutherbibel heißt es: "Wer zu mir kommt, den werde ich nicht hinausstoßen". Johannes 6, Vers 37. Das ist ein Wort von Jesus, dass er im Zusammenhang mit seiner Brotrede im Johannesevangelium sagt. Es gibt für einen selbst als Menschen immer wieder Gründe, wieso man sich selbst unannehmbar ist. Solche Gedanken, wie ich bin zu dick, zu dünn, zu hässlich, zu lang, zu alt, zu langweilig, zu grau.
Manchmal sind auch die anderen Menschen einem unannehmbar, zu laut, zu platt. Gerade in der Corona-Zeit gibt es viele Gründe, wo man sich aneinander stößt. Und dann ist es wichtig zu hören, dass Jesus eine unbedingte Annahme gelebt hat. Das zeigte sich gerade in seiner Mahlpraxis. Da heißt es von Jesus: "Dieser nimmt die Sünde an und isst mit ihm".
Das war anstößig für andere, diese unbedingte Annahme des Anderen, ganz gleich wer es ist, sich gemeinsam trotz allem unter den Tischsegen Gottes zu stellen. Das hat Jesus gelebt bis ans Ende. Und es ist auch für uns als Christinnen und Christen wichtig, dass wir diese unbedingte Annahme lieben und für uns selber das annehmen können: Geliebt zu sein von Gott, bedingungslos. Aber auch, dass jeder andere Mensch bedingungslos angenommen ist. Das Abendmahl, die Eucharistie ist eben der Ort, wo wir das besonders erfahren.
Es gibt einen schönen Satz von der United Church of Christ in den Vereinigten Staaten, die sagt, "Setze keinen Punkt, wo Gott ein Semikolon setzt". Also keine Trennung zu setzen, wo Gott nur ein Unterschied setzt. Und das finde ich wichtig, gerade in der Corona-Zeit, dass wir diese unbedingte Annahme für zum dem anderen leben.
Das heißt, es bleiben weiterhin Dinge, die uns aneinander stören. Aber es sollte uns niemals voneinander trennen und niemals den Blick dafür verlieren lassen, dass der andere Mensch ein geliebtes Geschöpf Gottes ist, genau wie ich. Und so sollten wir auch mit dem anderen umgehen.
DOMRADIO.DE: Warum passt dieser Vers jetzt ganz gut auf unser Jahr 2022?
Latzel: Ich glaube, es gibt viele Herausforderungen für uns. In der Corona-Zeit gibt es Menschen, die Impfskeptiker sind und da fällt es manchmal schwer, miteinander zu reden. Die sagen "ihr nehmt uns gar nicht richtig ernst und wahr". Der andere ist erst mal ein Bruder, eine Schwester, eine Kollegin, ein Kollege, ein Nachbar. Erst mal den Menschen in dem anderen zu sehen und nicht erst mal den Träger von einer Meinung, das hilft, den anderen anzunehmen, auch wenn ich mich dann mit ihm oder ihr über die Meinung streiten kann.
Das gleiche gilt glaube ich auch in anderen Feldern, die wir haben, wenn es um Fragen von Klimawandel geht. Da gibt es ja immer wieder die Gefahr, dass die Diskussion miteinander abreißt. Und da einander als Menschen erst mal anzunehmen, dass ist, glaube ich, wichtig.
DOMRADIO.DE: Wie können die Kirchen in Deutschland diese Jahreslosung umsetzen?
Latzel: Wir bemühen uns, indem wir selber diese Botschaft weitersagen, die in die Politik eintragen, indem wir sie zeichenhaft leben. Wie gesagt, das Abendmahl ist ein ganz wichtiger Ort. Und das ist natürlich für uns auch eine ökumenische Herausforderung, dass wir das bewusst gemeinsam leben, uns wechselseitig einzuladen, weil wir von Christus eingeladen sind. Das finde ich ganz wichtig.
Christus ist der Einladende beim Abendmahl und deswegen gibt es keinen Grund, weswegen ich da jemand anderen ausschließen sollte. Genau das zu verkünden, weitersagen, zu leben, das machen wir in der Diakonie, in Seelsorge, im Unterricht, an ganz vielen Feldern, wo wir immer zeigen, ein Menschenbild einzutragen, das von der unbedingten Annahme und unverlierbaren Würde eines jeden Menschen ausgeht.
DOMRADIO.DE: Gewählt werden die Jahreslosungen von der Ökumenischen Arbeitsgemeinschaft für Bibellesen. Welche Kriterien spielen denn dabei eine Rolle?
Latzel: Ja, es sollten Worte sein, die Menschen berühren, die sie nahe gehen, an Zuspruch zu haben. Das merkt man ja auch hier. Das ist erst mal eine Zusage, die wir haben. Also nicht erst mal eine Anforderung an uns, was wir tun sollen, sondern ein unbedingter Zuspruch Gottes.
Das ist schon etwas Befreiendes, wenn ich mir überlege, dass ich selber mit all meinen Stärken wie mit meinen Schwächen, mit meinen Schattenseiten angenommen und gehalten bin. Aber ist es auch im zweiten Schritt eine Zumutung, weil das eben auch für jeden anderen Menschen gilt und es mein Verhalten verändert.
DOMRADIO.DE: Was bedeutet Ihnen der Vers für dieses Jahr?
Latzel: Ich bin seit einem Jahr jetzt Präses der Evangelischen Kirche im Rheinland und habe da viele Menschen kennenlernen können und auch lernen können, wie Menschen vor Ort leben, etwa in den Flutgebieten, wo man merkt, den anderen aufzunehmen, anzunehmen. Ich habe das kennenlernen können in der Flüchtlingsarbeit, wo Menschen sich beispielhaft für Menschen einsetzen, die zu uns kommen, ohne etwas zu haben. In der obdachlosen Arbeit.
Ich bin wirklich fasziniert von diesem gelebten Glauben, der mir an ganz vielen Stellen in unseren Gemeinden begegnet. Und ich freue mich auf ein neues Jahr, in dem ich hoffentlich wieder vielen Menschen begegnen kann. Ich hoffe, dass wir uns gemeinsam als Gesellschaft stärken können, gerade in dieser Corona-Zeit. Das ist ja wirklich so ein kollektiver Stresstest, den wir gerade erleben. Zwei Jahre lang. Jetzt gehen wir das dritte Jahr damit.
Es ist wichtig, dass wir weiter gut darauf achten, dass wir gemeinsam gut durchkommen, uns gegenseitig stärken, Hoffnung zu geben. Gerade das Thema Hoffnung ist wichtig, weil einem das hilft, mit vielen Herausforderungen im Alltag gut umzugehen.
Das Interview führte Dagmar Peters.