DOMRADIO.DE: Sie leben und arbeiten als Seelsorger in Deutschland. Was bekommen Sie über die Situation in Ihrem Heimatland mit, was über die allgemeine Berichterstattung hinausgeht?
Kaplan Michael Fetko (Krankenhausseelsorger): Von meinen Eltern in der Südwestukraine und Bekannten aus der Zentralukraine weiß ich, dass es momentan große Schlangen vor Tankstellen, Apotheken, Bankautomaten und Supermärkten gibt. In kleinen Läden mit Lebensmittel sind viele Regale leer.
Die Lebensmittelpreise, Tankstellenpreise und die Preise für Technik sind unglaublich gestiegen. In großen Städten stehen die Menschen Schlange vor Kliniken zum Blutspenden. Mehrere Familien haben ihre Häuser in der Ost- und Zentralukraine verlassen und flüchten mit Notfallkoffern in Richtung Westukraine.
Die Menschen in Charkiw und Kiew verstecken sich in U-Bahnhöfen und an allen möglichen sicheren Orten. Aber das Schlimmste steht noch bevor. Sehr traurig hat mich die Tatsache gemacht, dass viele Eltern ihren Kindern am 24. Februar früh morgens erklären mussten, warum sie nicht mehr in die Schule, den Kindergarten und auf den Spielplatz gehen dürfen. Dieses Mal lautete die Begründung anders als gewohnt. Dieses Wort war nicht "Corona", sondern "Krieg".
DOMRADIO.DE: Seit Donnerstag befindet sich das ganze Land im Kriegszustand. Kam das für Sie überraschend?
Fetko: Zunächst muss ich sagen, dass der Krieg im Osten der Ukraine schon seit acht Jahren andauert. Mehr als 14.000 Menschen wurden seither bei uns getötet. Es gab 1,5 Millionen Binnenflüchtlinge. Die russische Annexion der ukrainischen Halbinsel Krim im Jahr 2014 und die kriegerischen Auseinandersetzungen im Donbas waren für mich und für die ganze Welt damals wirklich überraschend.
Die Angriffe Russlands auf das ganze Land habe ich bis vor einer Woche für unmöglich gehalten, weil ich an Diplomatie, Vernunft und an Lösungen des 21. Jahrhunderts geglaubt habe. Aber die Putin-Rede zur Ukraine vom 21.2.2022 markierte eine Wende und mir wurde klar, dass es zum Angriff kommen würde.
Das Schlimmste ist nun, dass er die ganze Ukraine haben will und sogar weitere europäische Länder. Niemand weiß jetzt, wie die ukrainische und europäische Landkarte in eine Woche aussehen wird.
DOMRADIO.DE: Sie stammen aus dem westlichen Teil der Ukraine, der stark nach Europa orientiert ist. Wie denkt man dort über die Menschen im Osten des Landes?
Fetko: Seit 2014 engagieren sich ehrenamtlich unzählige Freiwilligenbewegungen von Ost und West, Süd und Nord der Ukraine für die Unterstützung des ukrainischen Militärs und der Binnenflüchtlinge. All die Jahre verteidigen die Menschen ihr Land gegen Putins hybride Kriegsführung.
Ich würde sagen, dass die Ukrainer aus allen Teilen des Landes immer friedensorientiert waren und sind. Wir sind ein Volk und halten zusammen. Die Städte und Kirchen in der Westukraine bereiten sich intensiv vor, um Binnenflüchtlinge aus der Ostukraine und anderen Teilen aufzunehmen.
DOMRADIO.DE: Was erwarten Sie von der Politik in Deutschland? Reichen harte Sanktionen?
Fetko: Vor ein paar Jahren habe ich an harte Sanktionen geglaubt, heute nicht mehr. Alle bisherigen harten Sanktionen haben den einfachen Menschen in Russland geschadet aber nicht Putin selbst und seinem Regime. Deswegen muss man jetzt klug überlegen, was man tun kann, um das Gegenteil zu erreichen.
Natürlich sind wir dankbar für alles, was die Bundesrepublik Deutschland für die Ukraine bis jetzt gemacht hat und macht, aber um diese Katastrophe zu stoppen, muss es viel mehr sein. Von München zur ukrainischen Grenze sind es nur 1.000 km. Die Ukraine ist nicht irgendwo weit weg, sondern direkt in unserer Nähe. Sie ist sozusagen ein Nachbarland und braucht jetzt konkrete Hilfe.
DOMRADIO.DE: Viele Kirchenvertreter rufen vor allem heute zum Gebet auf. Was können wir in dieser Lage jetzt tun?
Fetko: Wir sind unendlich dankbar für die Gebete, die Solidarität und für das warme, menschliche Interesse an dieser Tragödie. Das macht Hoffnung. Sicherlich stellt sich für viele von uns jetzt die Frage, wo Gott in der Ukraine und in Russland ist. Wo ist seine Macht, Liebe und Barmherzigkeit?
Gleichzeitig stellt sich auch die Frage, wo der Mensch in der Ukraine und in Russland ist. Ich muss sagen, dass ich in den letzten zwei Tagen sehr viele SMS und E-Mails mit solidarischen Gedanken von meinen Freunden und Bekannten aus Deutschland und darüber hinaus bekommen habe.
Tausende Russen bitten in den Sozialen Medien die Ukrainer um Vergebung. Tausende protestieren "Nein zum Krieg" bei Anti-Kriegs-Demos in Russland. Hunderte sind festgenommen worden. Die Menschen sind da! Und das bedeutet, dass auch Gott da ist!
Was wir nun tun können? Zunächst Beten, an der Seite der Wahrheit stehen, an der Seite der Schwächsten stehen. Unterstützen Sie die Ukraine auch finanziell durch "Renovabis" und "Kirche in Not". Ich wünsche mir, dass die Zivilgesellschaft und die Kirchen in Westeuropa ihre Stimme noch stärker erheben.
Papst Franziskus sagte vor ein paar Jahren in Straßburg, dass Europa seine Seele nicht verlieren dürfe. Deshalb appelliere ich heute an ganz Europa: Europa, wo ist deine Seele? Europa, wach auf! Öffne deine Augen. Öffne dein Herz. Europa sei nicht gleichgültig und egoistisch. Sei Subjekt und nicht Objekt in diese Katastrophe.
Als 31-jährige Demokratie sind wir zu jung, um zu sterben. Siehst du nicht, dass die Ukrainer für die Werte sterben, die dich ausmachen, für die Freiheit, für die Menschenwürde, für die Demokratie und den Frieden? Die Ukraine hat zweimal die Zementierung autoritärer Regime verhindert und genau deswegen wird sie jetzt von anderen autoritären Regimen attackiert, weil sie den Weg aus der Angst in die Freiheit und zur Würde gegangen ist.
Europa, habe keine Angst! Schweige nicht! Erhebe deine Stimme gegen Ungerechtigkeit, Krieg, Hass, Lüge und Propaganda. Europa, vergiss uns bitte nicht!
DOMRADIO.DE: Sie leben im Rheinland, wo gerade Karneval gefeiert wird. Allerdings werden auch schon viele Veranstaltungen wegen des Krieges in der Ukraine abgesagt. Begrüßen sie diesen Schritt?
Fetko: Ich weiß, dass viele Menschen sich nach zwei Jahren der Pandemie auf das Karnevalfeiern sehr gefreut haben. Ich weiß aber auch, dass man gerade in Köln immer wieder Bomben aus dem Zweiten Weltkrieg findet. Im September vergangenen Jahres habe ich in Köln gewohnt und wir mussten wegen der Entschärfung einer Fliegerbombe in Köln-Lindenthal evakuiert werden.
Ich spüre, dass gerade Kölner uns jetzt sehr gut verstehen und wir sind für diese Solidarität sehr dankbar.
Das Interview führte Jan Hendrik Stens.
Information der Redaktion: Kaplan Michael Fetko ist in der Ukraine geboren und aufgewachsen. Er ist Priester der Ruthenischen Griechisch-Katholischen, d.h. unierten Kirche in der Ukraine. Nach dem Studium in Uzhorod/Ukraine, Eichstätt und München arbeitet er als Krankenhausseelsorger im Städtischen Klinikum Solingen.