Geschichten einer Flucht nach Deutschland

Kleine Lichtblicke und große Sorgen

Seit etwa einem Monat leben rund 190 Geflüchtete in einem ehemaligen Internat in Bad Godesberg. Darunter sind fast die Hälfte Kinder und Jugendliche. Sie haben zum Teil eine Woche bis nach Bonn gebraucht. Wie geht es ihnen jetzt?

Autor/in:
Anita Hirschbeck
Eine Karte der Ukraine liegt auf einem Tisch vor Geflüchteten aus der Ukraine / © Julia Steinbrecht (KNA)
Eine Karte der Ukraine liegt auf einem Tisch vor Geflüchteten aus der Ukraine / © Julia Steinbrecht ( KNA )

Es ist der Morgen des 24. Februar. Die elfjährige Miljena steht auf und macht sich für die Schule fertig. Das Mädchen weiß noch nicht, dass Russlands Präsident Wladimir Putin in der Nacht einen Angriffskrieg gegen ihr Heimatland, die Ukraine, gestartet hat.

Ein Mädchen, geflüchtet aus der Ukraine, steht an einem Fenster und sieht hinaus, in der Notunterkunft im Aloisiuskolleg in Bonn / © Julia Steinbrecht (KNA)
Ein Mädchen, geflüchtet aus der Ukraine, steht an einem Fenster und sieht hinaus, in der Notunterkunft im Aloisiuskolleg in Bonn / © Julia Steinbrecht ( KNA )

Wie jeden Morgen steht sie am Waschbecken und putzt sich die Zähne. Noch scheint alles normal in der Wohnung in Tschornomorsk, einer Hafenstadt am Schwarzen Meer. Da hört Miljena eine Explosion und fängt an zu weinen. Ihre Mutter versucht, sie zu beruhigen. Ereignet hat sich die Explosion im rund 20 Kilometer entfernten Odessa. Noch am selben Tag bricht Miljenas Familie nach Deutschland auf.

Flüchtlingsunterkunft auf Gelände von Aloisiuskolleg

So berichtet es die Elfjährige wenige Wochen später auf dem Gelände des Aloisiuskollegs in Bonn-Bad Godesberg. Rund 190 Menschen aus der Ukraine leben seit Kurzem im den ehemaligen Internatsräumen des Jesuiten-Gymnasiums, in denen bereits Geflüchtete aus Syrien und Flutbetroffene aus dem Ahrtal unterkamen.

Von den "Gästen" seien fast die Hälfte Kinder und Jugendliche, sagt Pater Martin Löwenstein, der Hausherr des Aloisiuskollegs. Als ihn der Schulhausmeister fragte, ob ukrainische Geflüchtete in den Internatsräumen unterkommen könnten, überlegte der Ordensmann nicht lange.

Martin Löwenstein / © Julia Steinbrecht (KNA)
Martin Löwenstein / © Julia Steinbrecht ( KNA )

Jetzt sitzt er im Kreis mit einem Dutzend Mädchen und Jungen - einem Teil seiner "Gäste". Ob jemand ein Fahrrad brauche, will der Jesuit wissen. Hausmeister Igor Guseev, der sich als Russlanddeutscher aus Sibirien vorstellt, übersetzt ins Russische.

"Seit zwei Wochen bin ich Ukrainer", sagt Guseev und verschränkt die Arme in seiner schwarz-braunen Arbeitsjacke. Er helfe immer wieder mal bei einer Baptistengemeinde in Köln aus. Die wiederum habe Kontakte zu einer Gemeinde in der Ukraine, wo Anfragen von Fluchtwilligen eingingen.

 Igor Guseev
 / © Julia Steinbrecht (KNA)
Igor Guseev / © Julia Steinbrecht ( KNA )

"Da habe ich mir gedacht, ich spreche mit Pater Löwenstein", so Guseev.

Die Kinder und Jugendlichen sind Mitglieder der Baptistengemeinde in Tschornomorsk und kennen sich zum Teil seit vielen Jahren. Miljenas Eltern und Geschwister flohen zusammen mit befreundeten Familien in einem Konvoi aus vier Autos.

Darunter waren auch die neunjährige Veronika und die 20-jährige Sascha. An den Grenzübergängen mussten sie stundenlang warten, erzählen die Mädchen. Die Erwachsenen hätten sich große Sorgen gemacht, weil sie nicht gewusst hätten, ob die Ausweispapiere der Kinder für einen Grenzübertritt reichten.

Konvoi war eine Woche unterwegs

Eine Woche war der Konvoi unterwegs, bevor er Deutschland erreichte. Die Reise begann mit einer Panne: In Moldawien verlor der alte Toyota Camry von Saschas Eltern so viel Öl, dass er einen Tag in die Werkstatt musste.

Bei jedem Stopp habe ihre Mutter Angst gehabt, dass das Auto nicht mehr anspringt, erzählt die 20-Jährige mit den dunklen Haaren und dem offenen Blick. Doch der Camry hielt die lange Strecke vom Schwarzen Meer über Moldau und Rumänien, Ungarn und Österreich durch. Jetzt steht er in einer langen Schlange von Wagen mit ukrainischen Kennzeichen auf dem Gelände des Aloisiuskollegs.

Als klar gewesen sei, dass Väter mit mehr als drei Kindern ausreisen dürfen, habe sich ihre Familie auf den Weg gemacht, berichtet Sascha.

Flüchtlinge aus der Ukraine sitzen im Gespräch an einem Tisch am Aloisiuskolleg in Bonn / © Julia Steinbrecht (KNA)
Flüchtlinge aus der Ukraine sitzen im Gespräch an einem Tisch am Aloisiuskolleg in Bonn / © Julia Steinbrecht ( KNA )

Zu sechst seien sie im Auto gewesen - ihre Eltern, sie und ihre drei Geschwister. Sie habe nicht sehr viel mehr mitgenommen, als das, was sie am Leib trug.

Ähnlich ging es Veronika und Miljena. "Bis zuletzt hat niemand geglaubt, dass so etwas kommt", sagen die Mädchen und meinen den Krieg. Ja, die Stimmung in der Stadt sei in den letzten Tagen seltsam gewesen. Ja, die Menschen hätten Hamsterkäufe gemacht. Ja, sie hätten gemerkt, dass etwas nicht stimmt. "Aber niemand hat es geglaubt, bis die erste Bombe fiel", bestätigt Sascha. Ihr Freund ist in der Ukraine geblieben. Sie telefonieren jeden Tag.

Auch der 16-jährige Kirill hängt oft am Smartphone. Seine Eltern sind noch in Tschornomorsk. "Alles okay im Moment", sagt der Jugendliche mit dem Lockenkopf. Sein Vater leitet die Baptistengemeinde, zu der rund 250 Menschen gehören. Viel soziale Hilfe vor Ort laufe derzeit über die Kirche, so Kirill. Deshalb wollten seine Eltern vor Ort bleiben und die Gemeinde unterstützen.

Fußballschuhe zu Hause vergessen

Nach Deutschland kam Kirill ohne Familie als Fahrgast in einem Reisebus. Ein Freund seiner Eltern begleitete ihn. Fünf Tage seien sie unterwegs gewesen. "Ich habe keine Angst gehabt", sagt der 16-Jährige. Deutschland kenne er schon ein wenig von früheren Besuchen. Nur: Seine Fußballschuhe habe er zuhause vergessen. "Das ist schlimm."

 Abendessen in der Notunterkunft
 / © Julia Steinbrecht (KNA)
Abendessen in der Notunterkunft / © Julia Steinbrecht ( KNA )

In Tschornomorsk kickte Kirill mit seinen Freunden, Lieblingsposition Linksaußen. Sascha hat oft Romane am Strand des Touristenortes gelesen. Ab dem Sommer wollte sie eigentlich Kunst und Theater in Kiew studieren. Jetzt könne sie kaum etwas planen, sagt sie.

Veronika war ebenfalls gerne am Meer - oder zum Schwimmen im großen Sportkomplex der 60.000-Einwohner-Stadt. Miljena vermisst ihren Hamster Annabelle, den sie bei ihrer Oma lassen musste. In Bonn sind die Mädchen zum ersten Mal in ihrem Leben mit einer U-Bahn gefahren.

"Hier ist alles toll", sagt Veronika und fügt sofort hinzu: "Ich habe Angst, dass ich nicht mehr zurück kann."

Spenden für Opfer des Krieges in der Ukraine

Viele Menschen möchten den Opfern des Krieges in der Ukraine möglichst konkret helfen. Fachleute halten Geldspenden beinahe immer für den besseren Weg als Sachspenden. DOMRADIO.DE hat eine Liste mit Spendenmöglichkeiten erstellt.

Wer einen Geldbetrag spenden möchte, sollte diesen am besten einer oder maximal zwei Organisationen zukommen lassen. Das mindert den Werbe- und Verwaltungsaufwand der Organisationen.

DOMRADIO.DE empfiehlt Spenden an folgende Hilfsorganisationen:

 

Caritas International

Hilfsbereitschaft für die Ukraine / © Halfpoint (shutterstock)
Hilfsbereitschaft für die Ukraine / © Halfpoint ( shutterstock )
Quelle:
KNA