DOMRADIO.DE: Alle Gläubigen, die am Welttag der Großeltern und alten Menschen am 24. Juli 2022 der Zeremonie des Papstes oder an einer der weltweit stattfindenden Veranstaltungen teilnehmen, können einen vollkommenen Ablass erwerben. Wie muss man sich das vorstellen? Man zahlt und bekommt seine Sünden vergeben?
Jan Hendrik Stens (Theologie-Redaktion): Es gibt zwar eine Verbindung zwischen Ablass und Sündenvergebung. Aber wenn mir ein Ablass gewährt wird, dann werden mir nicht die Sünden vergeben, sondern dann ist das ein Nachlass von zeitlichen Sündenstrafen. Das heißt, zwischen Vergebung und dem Wiedergutmachen eines Schadens gibt es einen Unterschied.
Ein Beispiel: Im Hinterhof ist das Ballspielen verboten, aber einige Kinder tun es trotzdem. Das ist die Sünde: Man verstößt gegen eine Auflage oder Regel. Dann zerschlägt der Ball die Fensterscheibe eines Anwohners und die Verursacher merken, das Ballspiel-Verbot hatte wohl doch einen Sinn.
Die Kinder sehen ein, dass sie Mist gebaut haben. Das ist die Reue. Sie gehen zum Anwohner, bekennen sich zu ihrem Vergehen und entschuldigen sich bei ihm. Das ist dann die Beichte. Der Anwohner nimmt die Entschuldigung an. Das ist die Vergebung. Aber die Fensterscheibe ist immer noch kaputt. Wer muss die Reparatur bezahlen? Und jetzt kommt die Kirche und sagt, sie zahlt. Sie ist also in diesem Fall die Haftpflichtversicherung.
Beim Nachlass zeitlicher Sündenstrafen geht es darum, den Schaden, den unsere Sünden angerichtet haben, wieder zu heilen. Das erlangt der Gläubige unter bestimmten festgelegten Voraussetzungen "durch die Hilfe der Kirche, die im Dienst an der Erlösung den Schatz der Sühneleistungen Christi und der Heiligen autoritativ verwaltet und zuwendet", wie es im Kirchenrecht (Can. 992 CIC) heißt.
DOMRADIO.DE: Ist so ein Ablass nur zu besonderen Gelegenheiten möglich oder geht das immer?
Stens: Es gibt für einen Ablass die regulären Möglichkeiten, wie zum Beispiel den Päpstlichen Segen Urbi et Orbi, den der Papst auf dem Petersplatz erteilt, den die Bischöfe auch in ihren Kirchen an den hohen Feiertagen erteilen können. Darüber hinaus gibt es Gelegenheiten, wie nun zum Beispiel besondere Jubiläen und Wallfahrten. Dann kann man die Möglichkeit in Erwägung ziehen, Rom darum zu bitten, einen solchen Ablass zu gewähren.
DOMRADIO.DE: Wie erlangt man denn einen solchen Ablass? Betet man da ein besonderes Gebet?
Stens: Dafür gibt es natürlich entsprechende Voraussetzungen. Dazu zählt in jedem Fall der Empfang des Bußsakramentes, denn ohne Reue und Bekennen bringt auch ein Ablass nichts. Also: Man geht beichten, man empfängt das Bußsakrament, man nimmt an der Eucharistiefeier teil, man empfängt die Kommunion und betet in der Intention des Papstes. Das ist sozusagen ein Gesamtpaket.
Man unterscheidet dann auch noch zwischen einem teilweisen und einem vollkommenen Ablass. Allerdings ist letzterer die regulär übliche Form.
DOMRADIO.DE: Jetzt können am Welttag der Großeltern und alten Menschen auch diejenigen einen Ablass empfangen, die sich an diesem Tag "ausreichend Zeit für den Besuch nehmen" von alten, kranken, einsamen oder behinderten Menschen. Ist das etwas Neues?
Stens: Den Empfang eines Ablasses nicht nur mit einem Gebet oder Mitfeier einer Zeremonie zu verbinden, sondern auch sozial-karitative Handlungen einzubeziehen passt natürlich sehr zur Spiritualität von Papst Franziskus. Man muss dabei aber auch bedenken, dass dies eine frühkirchliche Tradition ist.
Gutes zu tun, um wieder Gutes für sich selbst zu erlangen, ist auf jeden Fall der bessere Weg als für das Seelenheil Geld für fragwürdige Zwecke auszugeben, wie im spätmittelalterlichen Ablasshandel geschehen, den Martin Luther damals zu Recht kritisiert hatte.
Das Interview führte Tobias Fricke.