Himmelklar: Wie entsteht Glockenmusik?
Jan Hendrik Stens (Vorsitzender Deutsches Glockenmuseum e.V.): Es schlägt Metall auf Metall. Dadurch wird Klang erzeugt. Der Klang kann mehr oder weniger schön sein. Die Glocken in Europa haben sich über die Jahrhunderte entwickelt, das heißt sie klangen nicht immer so, wie wir sie heute kennen. Wenn man zu den Ursprüngen der Glocke geht, gerade im fernöstlichen Bereich, da klingt das ganz anders. Da gibt es riesige Glocken in Tempeln, die klingen eher wie ein Gong als eine Glocke, die wir kennen. Da sind die Ursprünge. Die Glocke ist dann mit der Christianisierung Europas erst in unsere Breiten hier gelangt und hat sich dann vom akustischen Signalgeber zu einem liturgischen Musikinstrument entwickelt.
Himmelklar: Was hören wir, wenn eine Glocke schlägt?
Stens: Einen Klang, der eine Harmonie in sich birgt, wo verschiedene Teiltöne ein Ganzes bilden. Das ist wie bei jedem Instrument: Es ist ja nicht nur ein Ton, sondern es gibt ein Obertonspektrum, es gibt den Prinzipaltonbereich. Das sind ganz verschiedene Summtöne, die ein Ganzes ergeben. Dieses Ganze ist der Klangeindruck, den wir wahrnehmen. Das herauszulesen oder auch herauszuhören, indem man analytisch hinhört, finde ich, macht das Ganze sehr spannend.
Himmelklar: Und dann gibt es noch die historische Bedeutung.
Stens: Was ich bewegend daran finde ist, dass wir, vor allem wenn wir alte Glocken hören, Musik auf Originalinstrumenten wahrnehmen. Das ist so, als würde jemand die Originalgitarre von John Lennon spielen. Wer die Erfurter Gloriosa hört, weiß: Die hat Martin Luther auch gehört. Und zwar genauso. Das finde ich schon faszinierend, wenn in Kirchen oben in den Stuben noch das hängt, was bei der Erbauung dieser Kirchen da reingehängt worden ist. Das ist inzwischen sehr selten der Fall. Aber es gibt einige wenige Geläute, die über Jahrhunderte gewachsen sind, wo noch genau das vorhanden ist, was von Anfang an dort gehangen hat.
Das Kölner Domgeläut ist zum Beispiel so ein Geläut, dessen Entstehungsgeschichte sehr eng mit der Baugeschichte des Domes zusammenhängt. Und gerade diese beiden Großglocken des 15. Jahrhunderts im Südturm, die Pretiosa und die Speciosa, das ist Originalmusik des Spätmittelalters, also da spricht Geschichte original und ungeschminkt zu uns.
Himmelklar: Was macht den Klang einer Glocke schön oder unschön?
Stens: Das ist zum Teil subjektiv und Geschmackssache. Der eine mag es lieber transparent und obertönig, der andere mag es lieber weich bis breiig. Es gibt durchaus Glockenklang, der dissonant ist, der aber auch seinen Reiz haben kann, wenn verschiedene Teiltöne sehr nah aneinander liegen und aneinander reiben. Und je nachdem, wie penetrant und aufdringlich dies ist, kann das den Glockenklang in unangenehmer Weise natürlich beeinträchtigen.
Es spielt natürlich auch eine Rolle, ob eine Glocke zum Beispiel richtig intoniert ist, ob der Klöppel stimmt. Das ist wie bei allen Musikinstrumenten. Eine gute Violine kann schlecht klingen, wenn sie mit einem schlechten Bogen gespielt wird. Wenn der Klöppel nichts taugt, dann kann auch die schönste Glocke vom Klang her versaut werden.
Was jetzt angenehm oder unangenehm ist, liegt auch sehr stark im persönlichen Ermessen. Aber ich würde schon sagen, dass ein tragender Glockenklang, der also von einem Anschlag zum nächsten durchzieht, sodass man im Idealfall eigentlich die Glockenschläge kaum noch wahrnimmt, mehr als eine Art kurzfristige Intensivierung des Klanges, dann ist das eigentlich ein sehr schöner Glockenklang.
Ich hatte ja eben gerade schon von der Pretiosa gesprochen. Das ist für mich schon eine der schönsten Großglocken, die wir in Europa haben. Wenn die läutet und durchzieht, das ist ein sehr tragender Klang. Man hört sie sehr weit. Sie ist auch sehr dickwandig. Also für ihre Tontiefe hat sie ein ungeheures Gewicht. Die wiegt über zehneinhalb Tonnen. Normalerweise hat eine Glocke in der Tonlage um die sechs Tonnen Gewicht, mehr nicht. Die hat eben mal knapp das Doppelte und das merkt man auch. Da ist also viel mehr Masse in Bewegung und auch viel mehr Masse, die vibriert. Und das macht schon auch eine ganze Menge vom Klang her aus.
Himmelklar: Glocken gibt es dabei meist nur im kirchlichen Kontext, richtig?
Stens: Es gibt auch weltliche Glocken, denken wir mal an den Turm des alten Münchner Rathauses, denken wir an Glocken, die an Gedenkstätten stehen oder weltliche Glocken in Parks oder auf Berggipfeln. Also es gibt auch weltliche Glocken, aber die größte Anzahl an Glocken hängt natürlich in Kirchtürmen. Manche davon waren aber früher auch in städtischem Besitz und hatten weltliche Aufgaben wie die Feuerglocke, die Sturmglocke oder die Ratsglocke.
Himmelklar: Was drückt der Glockenklang spirituell und theologisch aus?
Stens: Glockenklang kann wie jede Musik Stimmungen in uns verstärken und unterstützen, also Freude, Trauer, Verzweiflung und Vertrauen. Kirchliches Glockengeläut bedeutet für mich eine Form der Einladung, an einem Gottesdienst teilzunehmen, aber auch die Ermahnung an das Gebet. Es geht auch darum, Gottes Nähe im Alltag zu spüren, wenn es läutet.
Es ist mir daher auch sehr wichtig, mit Glocken vernünftig liturgisch umzugehen. Wenn man als Kirche ein Geläut im Turm hängen hat, sollte man diese Glocken bewusst einsetzen, also in einer Abstufung, dass man unterscheidet und wirklich hören kann, ob jetzt ein Werktag ist, ein Sonntag oder ein Hochfest.
Das Empfinden, wenn eine Glocke läutet, ist sehr subjektiv. Der eine verbindet etwas Spirituelles oder Religiöses damit und für den anderen ist es einfach nur Musik – oder für manche auch einfach nur Krach. Jeder geht mit Glockengeläut völlig anders um. Das liegt daran, dass es eine nonverbale Botschaft ist. Im Gegensatz zum Muezzin zum Beispiel, der eine klare verbale Botschaft hat. Wenn eine Glocke läutet, ist das abstrakt. Da steckt eine Botschaft zwar dahinter, weil es ja einen Grund für das Läuten gibt, aber letztendlich muss diese Botschaft erst einmal dekodiert werden. Und das ist eigentlich das Schöne dabei: Es wird keine Dogmatik damit beschrieben. Also ich erkenne jetzt nicht, ob eine Glocke evangelisch oder katholisch ist.
Himmelklar: Es gibt aber auch Stimmen, die das Glockengeläut im öffentlichen Raum als solches kritisieren, die zum Beispiel wegen Ruhestörung klagen. Ist es denn noch angebracht öffentlich zu läuten, wenn die Zielgruppe dieses Geläuts mehr und mehr zur gesellschaftlichen Minderheit wird?
Stens: Erstens: Unsere Botschaft richtet sich nicht nur an Christen. Die christliche Botschaft ist eine universale Botschaft, die sich an alle Menschen richtet, auch die, die keine Christen sind. Auch der Islam oder andere Religionen haben ja eine Botschaft, die sich an alle richtet. So ist eben auch das Glockengeläut eine Einladung an alle.
Meine Empfindung ist, dass die Beschwerden über Glockengeläut nicht nur von "religiös unmusikalischen" Menschen kommen. Zum Teil kommen sie auch von Kirchenvertretern selbst. Ich kann mich zum Beispiel erinnern: An einer deutschen Domkirche ist der nächtliche Uhrschlag abgestellt worden, weil sich einige Herren des Domkapitels in ihrer nächtlichen Ruhe gestört gefühlt haben.
In meiner Heimatstadt durfte in den neunziger Jahren an einer Kirche mittwochs morgens kein Angelus geläutet werden, weil eine Frau aus dem Pfarrgemeinderat ihre Kinder schlafen lassen wollte und das Glockengeläut da gestört hätte. Im Ruhrgebiet kannte ich mal einen Pfarrer, der hat Glockengeläut als Krach bezeichnet und in einer sehr katholischen Stadt durfte eine Kirche nie länger als drei Minuten läuten, weil der Pfarrer, der nebenan wohnte, sonst Kopfschmerzen bekam.
Ich kenne hingegen Menschen, die mit Kirche und Religion nichts zu tun haben, aber Glockengeläut sehr mögen. Einige davon sind auch Mitglied bei uns im Deutschen Glockenmuseum. Was natürlich stimmt, ist, dass die Akzeptanz des Christentums mit seinen öffentlich praktizierten Ritualen, zu denen auch sicherlich das Glockengeläut zählt, zunehmend in Frage gestellt wird, und dass natürlich auch solche Dinge wie Glockengeläut zunehmend unter Beschuss geraten.
Aber es ist vom Grundgesetz her geschützt. Artikel 4 des Grundgesetzes sichert die ungestörte Ausübung unserer Religion zu und das Glockengeläut als Ausübung der Religion – das liturgische Läuten, der Uhrschlag gilt rechtlich als "weltliches Läuten" – zählt dazu. Das gilt es auch erst einmal zu akzeptieren. Und wer in die Nähe einer Kirche zieht, muss damit rechnen, dass da auch immer wieder etwas zu hören ist.
Man kann es natürlich auch mit dem Läuten übertreiben. Man muss immer das Maß sehen. Aber ich sehe im Hinblick auf das geringer werdende Gottesdienstangebot, auf das Schließen von Kirchen keine Übertreibung des Glockengeläuts, eher das Gegenteil, dass es immer weniger wird.
Ich ermuntere inzwischen viele Kirchengemeinden dazu kreativ zu werden, bei immer geringerem Gottesdienstangebot dennoch die Glocken auch regelmäßig zu benutzen, zum Beispiel wenn es keine Vorabendmesse am Samstagabend mehr gibt, den Sonntag dennoch einzuläuten.
Das Interview führte Renardo Schlegelmilch.