DOMRADIO.DE: Als Pfarrer in Bad Neuenahr-Ahrweiler waren Sie ganz nah dran an der Katastrophe vor einem Jahr. Wie haben Sie die Nacht vom 14. auf den 15. Juli 2021, aber auch die Tage unmittelbar danach erlebt?
Pfarrer Jörg Meyrer: Ich habe natürlich nicht geschlafen. Wir wussten, auch weil ich früher bei der Feuerwehr war, dass dort eine schreckliche Katastrophe bevorstehen wird. Auch wenn wir überhaupt nicht geahnt haben, in welchem Ausmaß uns das ereilen wird und vor allem, in welcher Geschwindigkeit das Wasser zu uns kommen wird. Das war ja wie eine Flut-Tsunami-Welle.
Am ersten Tag war ich dann beim Roten Kreuz mit einem Kollegen zusammen und wir haben die Geretteten, nachdem sie medizinisch versorgt waren, betreut. Die warteten, ob sie weiter zu ihren Verwandten kommen könnten oder haben noch gesucht, wo sie unterkommen können. Es war ein schreckliches Erleben, wie zerschlagen die Menschen waren, die von der Feuerwehr und vom Roten Kreuz gerettet wurden. Und das hat sich ja dann ausgefaltet in den danach folgenden Tagen und Wochen, wo das Ausmaß der Katastrophe dann immer deutlicher wurde und die Toten immer mehr wurden. Als klar wurde, dass so viele Menschen vermisst sind und nicht mehr lebend geborgen werden können. Und in diesem Wahrnehmen sind wir ja eigentlich bis heute, dass wir das Ausmaß der Katastrophe ja immer noch nicht ganz verarbeitet haben.
DOMRADIO.DE: Eben deshalb wird heute, ein Jahr danach, den Opfern der Katastrophe gedacht. Wie wichtig ist dieses Innehalten?
Meyrer: Wir hatten ja schon die offiziellen Gedenkfeiern. Ich glaube, dass die den Menschen sehr wichtig waren am Donnerstag vor dem Jahrestag. Die Stimmung war ganz seltsam in der Stadt. So zittrig, nervös. Die Menschen waren irgendwie aufgeregt, aufgewühlt. Das hat sich dann auch in den Abend und in die Gedenkfeiern hinein übertragen. Am Freitag und Samstag kam dann irgendwie mehr die Dankbarkeit nach vorne. Das Aufatmen nach dem Motto: "Wir haben auch das jetzt geschafft. Die Erinnerungen waren da, die sind wichtig. Aber wir haben sie auch jetzt noch mal ein Stück verarbeiten können."
DOMRADIO.DE: Der Gottesdienst findet statt in der Kirche Sankt Laurentius in Ahrweiler. Auch dieses Gotteshaus war stark beschädigt und ist auch bis heute noch nicht wieder vollends intakt. Kein Boden, die Kirchenausstattung noch unvollständig, nur ein Kreuz. Warum ist diese Kirche trotzdem der richtige Ort für diesen Gedenkgottesdienst?
Meyrer: Wir haben überlegt, ob das ein guter Ort ist. Und wir waren alle der Meinung, dass wir es dort in dieser wirklich schrecklichen Baustelle machen. Die Wunden der Kirche sind überdeutlich zu sehen. Das ist die Situation ganz, ganz vieler Häuser in der Stadt. Es ist noch nicht wiederaufgebaut. Viele Menschen sind noch nicht in ihren Wohnungen, die wenigsten Geschäfte sind wieder geöffnet. Der Zustand der Kirche ist durchaus auch der Zustand vieler Häuser. Und sie ist uns Heimat diese Kirche, so wie Kirchen immer Heimat sind. Und deshalb wollen wir auch nicht woanders Gottesdienst feiern.
DOMRADIO.DE: Es wird die Segnung von sogenannten Segenstüten für die Flutopfer geben, die in ihre Häuser zurückkehren. Was ist drin in diesen Segenstüten und welche Symbolik soll damit einhergehen?
Meyrer: Wir haben alle eingeladen, dass sie selber ein Kreuz gestalten aus Ton, das dann in Maria Laach gebrannt wurde. Das Kreuz ist ein Teil dieser Segenstüte, die jeder mitnehmen kann in die Wohnung, in die die Familie zurückkehrt. Da ist auch Weihwasser drin, ein Buchsbaumzweig, eine Kerze, ein liebevoll gestaltetes Textheft mit einem Gottesdienst, den man zu Hause dann feiern kann. Das alles soll helfen, den Neuanfang in den Wohnungen zu erleichtern. Der ist ja nicht einfach, das weiß ich von denen, die schon wieder zurück sind. Viel Belastendes ist natürlich auch in diesen Wohnungen passiert. Diese Dinge sollen zeigen: "Wir haben die Zusage, dieser Anfang geschieht auch mit Gott."
Das Interview führte Moritz Dege.