DOMRADIO.DE: Wann ist Ihnen letztes Jahr nach der Flut die Idee für den Ahrpsalm gekommen?
Stephan Wahl (Priester des Bistums Trier, Seelsorger und Autor in Jerusalem): Es war so, dass ich die Nachricht bekam, hier an meinem Schreibtisch in Jerusalem, was an der Ahr passiert. Und da ich von der Mündung stamme, aus Remagen, am Rhein und an der Ahr gleichzeitig, hat mich das natürlich sehr interessiert. Am Anfang dachte ich, das ist Hochwasser, wie wir das öfter schon gehabt haben. Aber dann war ja klar, dass das kein Hochwasser ist, sondern Flut. Und dann kamen Nachrichten, wer davon betroffen ist. Man kennt Leute. Ein Verwandter von mir ist im Lebenshilfehaus in Sinzig umgekommen. Und das hat bei mir so eine Wut und eine Verzweiflung ausgelöst, das hat ein Ventil gebraucht und irgendwie bin ich dann dazu gekommen, alle meine Gedanken, die ich habe, in diesen Psalm hineinzubringen und da im Grunde auch Luft abzulassen, aber gleichzeitig auch mit diesem Thema zu ringen. Denn Psalmen ringen immer eigentlich um Themen, auch gerade dann, wenn man mit Gott schwer umgehen kann.
DOMRADIO.DE: Jetzt haben Sie zum Jahrestag neue Psalmen verfasst. Worum geht es da?
Wahl: Der Rückkehr-Psalm ist eigentlich entstanden auf Bitten der Pfarrgemeinde in Ahrweiler, die so ein kleines Paket zusammengestellt haben an Hilfen für die Leute, die in ihre Wohnungen zurückkommen und mit verschiedenen Erinnerungen, üblen Erinnerungen auch noch mal konfrontiert werden, weil dieser schreckliche Geist danach in dieser Wohnung noch präsent ist. Der zweite Psalm heißt "Mit widerständigem Mut", wo ich dann auch noch mal auf die Situation, wie sie nach einem Jahr ist, nochmal eingehen möchte. Warum habe ich das gemacht? Weil ich mich seit dem Ahrpsalm noch mehr mit Psalmen beschäftige und eine ganze Reihe zu verschiedenen Themen geschrieben habe. Das ist ein wunderbares Ventil, mit so verschiedenen schwierigen Themen umzugehen.
DOMRADIO.DE: Sie verfolgen das aus der Ferne von Jerusalem aus, auch wenn Sie selbst aus der Region stammen. Wissen Sie denn, ob die Menschen an der Ahr oder in den anderen betroffenen Gebieten diese Art Psalmen gemeinsam lesen oder beten?
Wahl: Damals nach dem Ahrpsalm, den ich vor einem Jahr geschrieben habe, habe ich unglaublich viele Rückmeldungen bekommen, gerade von den Orten selber. Ich war auch im November selber da und habe auch eine kleine Lesereise gemacht um Geld zu sammeln für die Ahr und habe dann auch mit vielen Leuten sprechen können. Und es hat mich sehr bewegt, dass manche mir gesagt haben, was ich versucht habe in Worte zu bringen, das hatten sie auch im Herzen, das hatten sie im Kopf. Aber das haben sie irgendwie nicht formulieren können, sodass ich vielleicht da eine Hilfe geben konnte mit den Worten, die mir gekommen sind, etwas auszudrücken, was viele so empfunden haben.
DOMRADIO.DE: Was geht in Ihnen vor, wenn sie so einen Psalm beten?
Wahl: Gerade bei dem ersten Psalm waren das Wut, Verzweiflung, Fragen an Gott, auch ein Hadern mit Gott drin. Bei den Psalmen kommt das oft vor. Es gibt nicht nur Dankpsalmen, es gibt auch Klagepsalmen. Das ist eine alte Tradition. Und ich erlebe hier in Jerusalem besonders im Kontakt mit der jüdischen Religion, dass die mit Gott viel direkter und viel ungeschminkter und unpopulärer umgehen als wir manchmal. Die Fragen werden dann schon auch in den Himmel geschleudert. Für mich ist das ein direkter Umgang mit Gott über dieses Psalmengebet, das nicht nur feine, stilisierte, fromme Formulierungen hat, sondern manchmal auch ziemlich ungehobelte Worte nach oben schickt. Ich habe das zusammengestellt in einem Buch, das im September erscheinen wird. Dieses Buch habe ich in Anlehnung an den Ahr-Psalm auch benannt: "Erwarte von mir keine frommen Sprüche".
DOMRADIO.DE: Fromme Sprüche haben Sie auch nicht gebraucht, als Sie zu weiteren Themen Psalmen geschrieben haben, zum Krieg in der Ukraine oder auch zur sexualisierten Gewalt in der katholischen Kirche. Dass auch da ganz viel Wut hochgekommen ist, kann man sich leicht vorstellen. Sprechen Sie da den Menschen aus der Seele?
Wahl: Ich versuche es. Ich kann mich erstmal nur in meine eigene Seele hineindenken und bei den beiden Themen brauchte ich gar keine anderen Menschen zu befragen. Da ist so viel Thema in mir selber drin, das raus muss. Gerade wenn ich an den Krieg in der Ukraine oder an die Menschen denke, die vom Missbrauch betroffen sind, wo ich natürlich auch gesprochen habe. Da ist erstmal das erste, was in mir selber drin ist. Aber anscheinend ist es nicht nur allein bei mir so, sondern kommuniziert dann auch mit anderen, die ähnliche Gedanken haben.
Das Interview führte Hilde Regeniter.