DOMRADIO.DE: Sie arbeiten vor Ort in Kabul, der Hauptsadt Afghanistans. Erleben Sie das auch so, dass es für Mädchen und Frauen dort immer schwieriger wird?
Stefan Recker (Caritas international): Ja, in der Tat. Als ich letztes Jahr im Dezember wieder zum ersten Mal nach Kabul kam, nachdem die Taliban im August die Macht übernommen hatten, sah die Situation ähnlich aus wie davor. Aber seitdem hat es sich graduell verschlechtert. Mädchen über zwölf Jahre dürfen nicht mehr in die Schule gehen. Es wird immer schwieriger für Frauen, sich auf den Straßen zu bewegen. Selbst die Frauen, die bei uns arbeiten, haben Angst, dass sie in irgendeine wilde Taliban-Patrouille geraten und dann von denen übel belästigt oder angeklagt werden, dass sie unmoralischen Aktivitäten nachgehen. Von daher: Es wird in der Tat immer schwieriger für Frauen in Afghanistan.
DOMRADIO.DE: Das heißt, es gibt noch weibliche Ortskräfte bei Ihnen im Büro?
Recker: Ja, das sind neue Kräfte, die wir Anfang dieses Jahres eingestellt haben. Alle unsere Ortskräfte, die bis August bei uns gearbeitet hatten, sind in Deutschland oder auf dem Weg dahin. Das heißt, wir mussten das gesamte Team bis auf zwei Kollegen ersetzen und haben das graduell seit Ende letzten Jahres gemacht. Die Frauen, die jetzt bei uns arbeiten, sind im Januar und Februar eingestellt worden.
DOMRADIO.DE: Amnesty berichtet auch, dass Frauen so gut wie keinen Schutz mehr haben vor häuslicher Gewalt oder Zwangsehen oder dass sie, wenn sie sich widersetzen, auch mit Folter rechnen müssen. Was bekommen Sie davon mit?
Recker: Eigentlich wenig. Ich denke, da gibt es auch gewisse soziale Abstufungen. Frauen, die bei uns arbeiten, kommen ja aus der Mittelklasse und die werden von solchen Gefahren wenig betroffen sein. Das kommt, glaube ich, eher in sozial schwächeren Schichten vor. Es ist ja auch in Afghanistan ein probates Mittel der Armutsbekämpfung innerhalb einer Familie, die Töchter zu verheiraten, weil sie dann eine Mitgift erhalten. Das ist übrigens ein Indikator für Armut im Land. Je niedriger das durchschnittliche Alter bei der Verheiratung ist, desto ärmer ist die Gesellschaft, je höher, desto reicher ist die Gesellschaft.
DOMRADIO.DE: Amnesty International kritisiert auch die internationale Gemeinschaft, dass sie Millionen afghanischer Frauen ihrem Schicksal überlasse. Teilen Sie diese Kritik?
Recker: Wir sind eine humanitäre Hilfsorganisation, die sich mit allen Menschen beschäftigt und sich um alle kümmert. Ich wüsste jetzt nicht, was die internationale Gemeinschaft machen sollte, um Frauen und Mädchen in Afghanistan direkt zu unterstützen und für sie Lobbyarbeit zu betreiben. Es gibt keine offiziellen Beziehungen der internationalen Gemeinschaft zu der Taliban-de-facto-Regierung. Von daher ist es natürlich schwierig, Druck auszuüben oder Lobbyarbeit zu betreiben. Das geht einfach über meine Kompetenz hinaus, darüber zu sprechen oder eine Aussage zu treffen.
DOMRADIO.DE: Wie versuchen Sie von Caritas international auf diese Notlage der Frauen zu reagieren?
Recker: Indem wir gerade Frauen wirtschaftlich unterstützen durch Bargeldauszahlungen. Es gibt einen sogenannten Warenkorb und dessen Äquivalent wird dann monatlich an Familien ausbezahlt, gerade aber auch an Familien, die primär von Frauen abhängig sind, in denen kein Mann für Einkommen sorgt. Auch alleinstehende Frauen bekommen solche Hilfe. Das sind unsere primären Maßnahmen, damit Frauen unabhängiger sind, Töchter oder sich selbst nicht verheiraten müssen.
Das Interview führte Hannah Krewer.