Das "Blaue Pferd" war versteckt, die Mitglieder der Künstlergruppe "Blauer Reiter" tot oder emigriert. Als 1955 die erste documenta in Kassel eröffnet wurde, sollte endlich wieder moderne Kunst zu sehen sein und so die Jugend an die Demokratie herangeführt werden. Über Jahrzehnte wurden diese 100-Tage-Ausstellungen zu einem Sinnbild für die Kunst der jeweiligen Zeit. Die ausgewählten Künstler und Künstlerinnen schenkten mit ihren Werken den Sammlungen der deutschen Kunstmuseen nachhaltige Impulse - auch dem Münchner Lenbachhaus.
Unter dem Titel "Was von 100 Tagen übrig blieb" präsentiert das Lenbachhaus bis 11. Juni 2023 eine Sonderschau. Diese soll anhand von Gemälden, Fotografien, Zeichnungen, Videos und Zitaten aus Zeitungen demonstrieren, welchen Einfluss die Kassler Ausstellungen auf das Haus in München hatten. Die Debatten um die aktuelle 15 Fassung wurden indes bewusst ausgeklammert.
Stets griffen die Macher aktuelle Themen auf, die später auch den "Mief" aus Museen in Deutschland trieben. Dort wurde dann gezielt gesammelt, was es beim Vorreiter zu sehen gab. Für die Historie der Ausstellungen im Lenbachhaus sei der Einfluss sicher belegt, sagt Direktor Matthias Mühling. Das jüngste Projekt "Gruppendynamik - Kollektive der Moderne" wäre etwa ohne die documenta 11 von Okwui Enwezor (1963-2019), der von 2011 bis 2018 auch Direktor des Hauses der Kunst in München war, nicht denkbar gewesen.
Erste documenta stellte bedeutende Künstler aus
Bei der ersten documenta 1955 wurden allerdings noch weltbekannte Werke aus der Gruppe des "Blauen Reiter" in Kassel vorgestellt. Dazu gehörten Gabriele Münters "Stillleben Grau" (1910), Franz Marcs "Rehe im Schnee II" (1911) oder Wassily Kandinskys "Parties diverses" (1940). Letzteres ist inzwischen aus konservatorischen Gründen nur noch in München zu sehen. Auch bei der II. documenta (1959) und bei documenta III (1964) waren die Münchner Expressionisten vertreten.
Mit Fritz Koenigs Skulptur "Großes Votiv K" (1963/64) oder Asger Jorns Gemälde "They never come back" (1958) tätigte wiederum das Lenbachhaus erste Ankäufe aus dem Segment der Gegenwartskunst der frühen documenta-Ausstellungen. Aus der politischen Ausrichtung der 4. documenta (1968) gelangte Öyvind Fahlströms großes Panorama zum Vietnamkrieg "Live Curve 2 (Snowfield)" (1967) in die Münchner Sammlung. Von Joseph Beuys' erstem Auftritt ist in der Sonderschau die "Bienenkönigin I" (1947-52) aus der Sammlung Lothar Schirmer vertreten.
Wechselwirkung zwischen Gesellschaft und documenta
Bis zuletzt galt die documenta als eine der spannendsten Ausstellungen, die durch abwechselnde Kuratoren innovative Projekte vorstellte. Entgegen aller Widersprüche ist sie als weltumspannendes Angebot aufgestellt, das künstlerische Trends, Bedarfe und Zielsetzungen alle fünf Jahre aufs Neue einfängt.
Die Wechselwirkung zwischen documenta und gesellschaftspolitischem Kontext zieht sich durch die Geschichte. Das gilt für das Epochenjahr 1968 ebenso wie für die documenta X (1997), die auf die geopolitischen Umwälzungen in der Sowjetunion und deren Einflussbereich reagierte. Die Terroranschläge vom 11. September 2001 schlugen sich ein Jahr später auf der Documenta11 (2002) nieder, ebenso 2012 der Krieg in Afghanistan.
Neues Verständnis
Im Zuge der Geschichte der documenta hat sich das Verständnis des Ausstellungsmachens verändert. So umfasst heute das "Kuratieren" nicht nur die Auswahl nach stilistischen Kriterien, sondern vor allem auch die Auswahl von Themen und Werken einer zeitgenössischen Ästhetik von politischer Aktualität.
Das Lenbachhaus setzt in seiner Schau daher auf Texte von nicht hauseigenen Journalisten und Ausstellungsmachern. Man habe sich bewusst herausgehalten und für die Leitposter durch die Schau erläuternde Zitate aus Zeitungen und Medien der jeweiligen Zeit ausgewählt, heißt es. Auf neonfarbenen Grund gedruckt, führen sie die Besucherinnen und Besucher in die Zeit der jeweiligen documenta-Jahre.