DOMRADIO.DE: Papst Franziskus hat sich eindrucksvoll für da kirchliche Versagen der katholischen Kirche entschuldigt. Gerade in Kanada hatte man lange auf diese Geste der Entschuldung für die Taten im Zusammenhang mit dem Missbrauch gewartet. Kann man sagen, der Papst hat seine Mission gut erfüllt?
Stefan v. Kempis (Vatican News): Ich glaube schon. Er hat sich viel Zeit für Begegnungen genommen, hat den Indigenen lange zugehört, hat an einer ihrer Wallfahrten teilgenommen, hat sich mit ihrer Kultur beschäftigt, hat immer wieder von neuem seine Bitte um Vergebung formuliert. Also, allein die Tatsache, dass er das nicht alles an einem Nachmittag abgehandelt hat, sondern dafür eine Woche lang durch ganz Kanada bis fast an den Nordpol gezogen ist, trotz aller körperlichen Beschwerden - spricht dafür, dass er sich wirklich Mühe gegeben hat.
DOMRADIO.DE: Die katholische Kirche war ja ganz besonders im Focus - weil sie maßgeblich in ihren Schulen und Internaten im Auftrag des Staates bei der "Um-Erziehung" der indigenen Schülerinnen und Schüler Schuld auf sich geladen hat. Der Papst hat sich persönlich entschuldigt - aber auch für die Fehler der katholischen Kirche. Hat es geholfen, dass er sich bei den Entschuldigungen auch ganz persönlich sich an die Spitze gestellt hat?
v. Kempis: Es dürfte jedenfalls bei seinen Zuhörerinnen und Zuhörern den Eindruck befördert haben, dass sich auch die Führung der Weltkirche des Problems bewusst ist. Dass das nicht als lokales Phänomen gesehen wird, sondern als eine Sache, die auch den Chef etwas angeht. Der Vorsitzende der Bischofskonferenz hat uns vor der Reise in einem Interview gesagt: Wir sind besonders froh darüber, dass der Papst eigens kommt, um um Entschuldigung zu bitten, denn das hat eine viel größere Glaubwürdigkeit, als wenn nur wir Bischöfe hier das tun würden. Das fand ich interessant. Da wird also sozusagen Franziskus mobilisiert, um den indigenen Völkern und Gruppen zu signalisieren: Wir meinen das wirklich ernst mit einem Weg der Heilung und Wiederversöhnung.
Für mich spricht daraus fast auch ein bisschen Verzweiflung der Bischöfe Kanadas. Die haben sich auf den Weg eingelassen und merken jetzt: Da kommen ja immer neue Forderungen, mit ein paar Bitten um Entschuldigung ist es bei weitem nicht getan, sondern das wird richtig anstrengend. So ein bisschen wie bei der deutschen Kirche und dem Thema Missbrauch: Das ist ein langer Weg, und noch lange nicht ausgestanden.
DOMRADIO.DE: Wie haben die Pressestimmen die Reise des Papstes bewertet? Wie sieht man es im Vatikan selber?
v. Kempis: Ich fange mal mit dem Vatikan an: Aus vatikanischer Sicht war das eine ganz bemerkenswerte Reise – eine „Bußwallfahrt“, so etwas hat es mit diesem Etikett in der Geschichte der Papstreisen bisher noch nie gegeben. Etwas überrascht ist man im Vatikan darüber, jedenfalls nach meinem Eindruck, dass es nicht gereicht hat, dass Franziskus deutlich und mehrfach im Namen der Kirche um Entschuldigung bittet, sondern dass da weitere, konkrete Forderungen aufkommen oder virulent bleiben. Nach meinem Eindruck war man im Vatikan darauf nicht so ganz vorbereitet, hatte es zum Beispiel nicht auf dem Schirm, dass es Forderungen geben würde, päpstliche Bullen aus dem 16. und 17. Jahrhundert offiziell zu widerrufen, in denen es um die Entdeckung und Verzweckung der Neuen Welt geht.
Die Pressestimmen waren, soweit ich das gesehen habe, eher mau: Papstreisen ziehen nicht mehr so wie früher zu Zeiten Johannes Pauls II., klar gesagt. Das Format ist jetzt eingespielt, und eher nur die Kenner interessieren sich dafür; die meisten Menschen in Deutschland werden gar nicht gewusst haben, dass der Papst jetzt in Kanada war. Es gibt immer mal wieder spektakuläre Reisen, die da eine Ausnahme bilden, z.B. Franziskus‘ Reise letztes Jahr in den Irak. Aber die meisten Papstreisen, auch diese, fliegen inzwischen unter dem Radar der ganz großen internationalen Öffentlichkeit.
Ich fand es zum Beispiel ein bisschen schade, dass die "New York Times" die ganze Geschichte von der Seite her aufzog: Ein Papst, der im Rollstuhl sitzt, wirbt mit ganz neuer Glaubwürdigkeit dafür, dass man mit alten und kranken Menschen gut umgehen sollte. Das scheint mir doch ein bisschen zu kurz gesprungen. Hier im Vatikan hat man in den letzten Wochen intensiv studiert und gelernt, dass es ganz verschiedene indigene Gruppen in Kanada gibt: die "First Nations" (zu denen hätte man früher Indianer gesagt), die Métis, die teilweise europäische Vorfahren haben (vor allem Pelzhändler), und schließlich die Inuit vom Nordpolarmeer. Diese Geschichte hätte man medial während dieser Papstreise gut erzählen können, die ist sehr interessant: Wie diese Gruppen und Stämme und Völkerschaften heute leben, nämlich oft in Armut. Dass aber sogar die Generalgouverneurin von Kanada eine Inuit ist. Das hat viele interessante Aspekte, aber ich habe das in der letzten Woche in den Medien kaum gesehen, die meisten Leute sind wahrscheinlich immer noch auf Winnetou-Niveau…
DOMRADIO.DE: Welche Bilder und welche Botschaften werden von dieser Reise auch langfristig in Erinnerung bleiben?
v. Kempis: Da gibt es schon einige: Der Papst mit Federschmuck, Häuptling Franziskus. Der Papst im Rollstuhl in einem Gräberfeld, ganz in der Nähe einer sogenannten Residential School, also einer kirchlichen Internatsschule, in der früher die Kinder von Indigenen systematisch ihrer Kultur entfremdet wurden – ein kultureller Genozid, wie der Papst einmal gesagt hat. Oder Franziskus, der am Polarkreis einem tanzenden Inuit zusieht. Eigentlich waren diese Bilder selbst die Botschaft: Ich bin gekommen, um einmal euch die Bühne zu überlassen und euch zuzuhören, weil man das in der Vergangenheit viel zu selten getan hat…
DOMRADIO.DE: Bei uns bei DOMRADIO.DE haben die Betroffenen hier in Deutschland deutlich gemacht, dass sie zwar die Entschuldigung grundsätzlich würdigen - aber das das institutionelle Versagen der Kirche zu wenig angesprochen wurde. Auch wäre eine Art "Buß-Reise" des Papstes auch bei uns ein starkes Zeichen. Ist so was vorstellbar?
v. Kempis: Ganz klar – das wäre ein Traum von einer Papstreise! Mir fallen zwar sofort Dutzende Hindernisgründe ein, warum das eher nicht gehen wird, aber man wird doch mal träumen dürfen, erst recht nach so einer Kanada-Reise, wo sich der Papst richtig Zeit genommen hat, Opfern und Überlebenden von Diskriminierung und Missbrauch zuzuhören… Natürlich wäre mit einer solchen Reise nicht alles gelöst und aus der Welt geschafft, aber es würde guttun, zu sehen, dass sich der Hauptverantwortliche der katholischen Kirche für eine solche Bußwallfahrt nicht zu schade ist. Das würde den Opfern in Deutschland guttun, und es würde auch den vielen Katholiken guttun, die derzeit an der Kirche verzweifeln. Die würden dann sehen, dass der Vatikan nicht nur anonyme Briefe nach Deutschland schickt, sondern sich durchaus sensibel eines solchen Themas annehmen kann.
DOMRADIO.DE: Wenn man den Papst bei seinen öffentlichen Auftritten im Rollstuhl beobachten konnte - welchen gesundheitlichen Eindruck hatten Sie dabei? Über die Gesundheit des 85 Pontifex ist ja viel spekuliert worden?
Eigentlich wirkte er auf mich ganz robust. Er blickt allerdings manchmal, wenn er so im Rollstuhl herumgeschoben wird, etwas ärgerlich drein; vielleicht hat er dann Schmerzen oder ärgert sich, dass er nicht so herumlaufen kann, wie er es in seiner Spontaneität früher tun konnte. Aber seine Kniebeschwerden bremsen ihn nicht, das ist mein Eindruck. Ich glaube nicht an einen Papst-Rücktritt in nächster Zeit – jedenfalls nicht vor der großen Synode vom Oktober 2023, in der es ja um die Ergebnisse des derzeit laufenden, weltweiten synodalen Prozesses geht. Dieser Papst hat noch was vor!
DOMRADIO.DE: Abschließende Frage: was bleibt von der Reise oder besser gefragt - wie wird es weitergehen? Viele sind ja die Ansicht, dass dies nur ein erster notwendiger Schritt der katholischen Kirche durch den Papst gewesen sein kann?
v. Kempis: Das ist die große Frage – wie geht es jetzt weiter? Diese Reise hat ja erwiesen, dass es eben nicht mit einer Bitte um Entschuldigung getan ist, sondern dass da jetzt eine ganze Liste von Forderungen abgearbeitet werden muss. Der Vatikan wird prüfen müssen, ob er das Lob früherer Päpste für die Aufteilung der Neuen Welt nicht offiziell widerrufen sollte – und ob er nicht aus den Vatikanischen Museen Hunderte von Artefakten aus Indigenenland, die vielleicht auf dubiose Weise nach Rom gelangt sind, eigentlich zurückgeben müsste. Und weitere Themen, um die es in den nächsten Monaten gehen wird, sind Entschädigungen – damit will sich die kanadische Bischofskonferenz jetzt befassen – und der Zugang zu kirchlichen Archiven, um zu klären, was aus vielen Kindern geworden ist, die an so einer Residential School waren. Also, da kommt noch einiges auf die kanadische Kirche und auch auf den Vatikan zu.