DOMRADIO.DE: Heinrich Schütz wurde genau 100 Jahre vor Johann Sebastian Bach geboren, erhalten haben sich vor allem seine zahlreichen geistlichen Chorwerke. Gestorben ist er am 6. November 1672. Warum ist er heute noch wichtig?
Prof. Dr. Meinrad Walter (Musikwissenschaftler und Theologe): Heinrich Schütz ist wichtig, weil er ein repräsentativer Komponist seiner Zeit war. Er ist aber auch wichtig, weil er sich an einem Riesenprojekt sozusagen über die Epochen hinweg maßgeblich beteiligt hat, nämlich an der klingenden Bibel-Auslegung. Diese klingende Bibelauslegung kann heute inspirierend sein aus der Feder von Komponisten, die noch leben, von Komponisten, die wir gar nicht kennen, etwa der Gregorianik, aber auch von Bach, Händel, Mendelssohn oder eben auch von Heinrich Schütz. Außerdem gibt es da noch ein paar persönliche Dinge bei Schütz, die auch nicht uninteressant sind neben dem Werk.
DOMRADIO.DE: Sie sprechen es an; Schütz war evangelischer Kirchenmusiker, Hofkapellmeister. Der Dresdner Hof war damals noch protestantisch, und trotzdem ging Schütz zweimal ins katholische Venedig, um an der berühmten San Marco-Basilika sich die Kirchenmusik ganz genau anzuschauen und viel zu hören. Wie streng oder locker waren denn die konfessionellen Grenzen damals?
Walter: Sie sind ja meistens streng und locker zugleich, je nachdem, wie man das auffasst. Die Musik trägt der Ökumene manchmal sozusagen die Fackel voraus und ist schon weiter.
Für Schütz war, glaube ich, entscheidend, er war verwurzelt im Luthertum ohne Frage. Aber ihn trieb auch die Frage um: Wo ist das Neue der Kirchenmusik? Und das Neue in jener Zeit kommt aus dem Süden, aus Italien. Also will er da hin. Da ist vieles katholisch, aber da wurde er zur Musik neu "angefrischet", wie er schreibt. Und er hat viele Inspirationen empfangen. Die sind zunächst mal katholisch beheimatet. Aber seine Leistung ist ja gerade, dass er die neuen Elemente dann in die evangelische Kirchenmusik mit einbringt.
DOMRADIO.DE: Von Johann Sebastian Bach weiß man, dass er ein überzeugter Lutheraner war und dass auch die gesamte Familie da Stolz drauf war. Wie viel weiß man eigentlich über Schütz persönliche konfessionelle Prägung?
Walter: Man weiß, dass er die Lutherbibel sehr hoch schätzte. Ich glaube, das war eine Selbstverständlichkeit für ihn, in diesem lutherischen Bereich tätig zu sein. Das hätte er auch nie in Frage gestellt. Aber Komponisten suchen so einen größeren, einen universalen Horizont. Und da ist es interessant, dass er erst mal nichts ausschließt.
Wichtig ist für ihn zum Beispiel, dass - typisch protestantisch - Musik die Bibel auslegen und darüber predigen soll. Einem seiner Schüler empfiehlt Schütz, er soll möglichst noch die Anfangsgründe des Hebräischen lernen. Das sei nämlich nützlich bei der Komposition von Psalmen.
Die Katholiken hätten in der Zeit eher gesagt: Psalmen sind liturgisch, das ist immer lateinisch. Das vertont man, und man versteht es. Dass Komponisten sich noch in die Originalsprache vertiefen sollen, habe ich noch bei keinem Katholiken gelesen. Aber das ist etwas typisch Protestantisches bei Schütz. Auch das Selbstbewusstsein, das betrifft Schütz ebenso wie Bach, dass man als musikalischer Prediger ebenbürtig ist mit dem Wort-Prediger im Gottesdienst.
Da gibt es prinzipiell eigentlich keinen Unterschied. Die Musik hat sogar den Vorteil, dass ihre klingende Bibelauslegung noch dramatischer, noch vielschichtiger sein kann als der eine Mensch, der auf der Kanzel predigend mit nur einer Stimme sprechen muss. Die Musik bietet hingegen ganze Chöre auf, nutzt die räumliche Klangregie, ist unterschiedlich besetzt; solistisch, Ensemble, Instrumental, vokal. Das sind alles ganz neue Welten. Und die haben Schütz immer sehr interessiert.
DOMRADIO.DE: Und trotz dieser unglaublichen Werke, die er geschrieben hat, muss man ja sagen: Er hat in einer sehr schwierigen Zeit gelebt, nämlich während des 30-jährigen Krieges. Er ist selber sehr alt geworden, hat aber auch viele Verwandte verloren. Was können denn seine zahlreichen Werke, die aus so fernen Jahrhunderten stammen, uns heute noch sagen?
Walter: Interessant ist zunächst, dass sie so vielgestaltig sind. Sie sind fern und nah zugleich. Schütz schreibt ganz schlichte Sätze wie "Aller Augen warten auf dich, Herre". Das ist ein Psalm-Wort, das auch als Tischgebet in vielen Situationen dienen kann. Er nutzt auch das “starke Getön und die Pracht”, etwa in vielstimmigen und mehrchörigen Werken.
Schütz präsentiert mehr als Worte, nämlich auch Gesten, Affekte, Gegensätze. Und sogar ganz persönliche Dinge schwingen mit: In einer Begräbniskomposition, den Musikalischen Exequien, zeigt er die musikalische Sterbekunst.
Da werden Bibelsprüche, die auf einem Sarg stehen, in Musik “übersetzt”. Dort vertonte Zitate wie "Der Gerechten Seelen sind in Gottes Hand" aus dem biblischen Buch der Weisheit sind überzeitlich. Schütz gibt seine Antwort auf die Frage: Was passiert mit den Seelen nach dem Tod? Da hören wir dann, wie eine himmlisch-vollendete Seele (beata anima) von zwei Engeln ins ewige Leben geleitet wird.
Schütz hat versucht, in den schwierigen Zeiten trotzdem Kunst zu komponieren. "Kleine geistliche Konzerte", heißen zwei seiner Sammlungen. Sie sind nicht schlechter, nicht schwächer als die großen. Aber sie passen sich der Situation des 30-jährigen Krieges an, das finde ich auch persönlich vorbildhaft, dass er sagt, ich muss aus meiner Situation das Beste machen.
Nach dem Tod seiner Frau schreibt er: Die Musik wird mir zur Trösterin in meiner Traurigkeit - also auch eine ganz persönliche Sterbekunst. Er hat sich mit diesen ganzen Themen auseinandergesetzt und hat eine Bibelauslegung komponiert, die man heute auch in wissenschaftlichen Kommentaren zum Beispiel zitieren könnte. Das macht man nur nicht.
Da zitiert man immer nur die anderen Theologen-Kollegen, man nimmt nicht so ernst, dass die Musik auch eine ursprüngliche Form von Theologie ist, eine Form von Verkündigung. Das macht Schütz, finde ich so, dass es heute ganz viele Menschen interessiert; die Alte Musikszene international zum einen, aber natürlich auch für Gottesdienste. Aber es ist nicht nur eine rein liturgische Musik, die überall immer noch wahrgenommen.
DOMRADIO.DE: Und auch von katholischen Chören wird selbstverständlich die Musik von Heinrich Schütz gesungen. Aber mal die Frage: Wie präsent sind denn seine Werke heute noch in den in der gottesdienstlichen Praxis?
Walter: Manches ist präsent, ohne dass man das so ganz genau weiß. Zum Beispiel, wenn gesungen wird: "Wohl denen, die da wandeln", aus dem Gotteslob. Dann ist das eine Melodie aus dem sogenannten Becker-Psalter von Heinrich Schütz. Je nach dem wird auch der Schütz'sche vierstimmige Satz als Orgelbegleitsatz gespielt. Oder "Jerusalem, du neue Stadt", das ist ein Osterlied nach einem alten Hymnus, aber mit einer schwungvollen Melodie von Schütz.
Darauf kann man übrigens auch wunderbar “Halleluja” singen. So steht es im Gotteslob-Eigenteil des Bistums Rottenburg-Stuttgart. Zur Kommunion-Spendung kann man singen: "Aller Augen waren auf dich, Herre". Und dann im Psalmen-Bereich können natürlich seine Kleine geistliche Konzerte erklingen. Das habe ich schon bei Gottesdiensten miterlebt.
Die größeren Stücke sind natürlich die Weihnachts-Historie, die Passionen gehen gut an Karfreitag, seine Johannes-Passion zum Beispiel. Aber einige Stücke sind dann auch heute eher konzertante Musik, wobei eine Brücke zwischen Konzert und Gottesdienst zum Beispiel auch die Wort-Gottes-Feier sein könnte, was noch nicht so oft genutzt wird.
DOMRADIO.DE: Da sprechen Sie gerade eine sozusagen neue Form an, denn angesichts von Priestermangel und auch Gläubigen-Mangel ist die katholische Kirche immer auf der Suche nach neuen liturgischen Formen. Und ein Stichwort ist da die Wort-Gottes-Feier, die in der Form etwas freier ist, sie wird von Laien geleitet. Wie könnte man da zum Beispiel die Musik von Heinrich Schütz integrieren?
Walter: Man kann bei dieser Gottesdienstform einen Evangeliumstext in den Mittelpunkt stellen und einen Psalm. Dann kann eine Evangelien-Motette erklingen, wie zum Beispiel das berühmte. "Also hat Gott die Welt geliebt".
Psalmen finden wir sehr, sehr viele bei Schütz, Choräle können mal aus dem Becker-Psalter sein, vielleicht auch mit Strophen, die nicht so üblich sind. Das wäre eine Möglichkeit. In Freiburg hatten wir einen Versuch an einem besonderen Tag, nämlich am Aschermittwoch der Künstlerinnen und Künstler. Da sind die Musikalischen Exequien als Musik zur Wort Gottes-Feier mit Aschen-Austeilung erklungen. Das ist immer eine Wort Gottes-Feier, weil es auch ökumenisch sein soll. Deshalb hier keine Eucharistiefeier. Die gibt es dann zu anderer Uhrzeit.
Ich glaube, da ist noch ein ungenutztes Potenzial. Vieles, was heute im Konzert ist, könnte sich auch in Richtung einer Wort Gottes-Feier bewegen, wenn im Konzert auch ein Vaterunser gebetet, ein Segenswort gesprochen, vielleicht eine geistliche Moderation mit dabei ist.
Da kann man eigentlich sehr gute Erfahrungen machen, vor allem in den geprägten Zeiten. Dann hätte man in der Passionszeit Schütz-Passionen oder das Werk "Die sieben Worte" eignet sich wunderbar. In der Adventszeit hätte man sehr viele Stücke, die noch nicht weihnachtlich, sondern wirklich adventlich sind. In der Weihnachtszeit gäbe es ähnlich viele. Da müsste man so am Kirchenjahr entlang ein bisschen experimentieren und schauen, was sich in diesem Zwischenfeld zwischen typischem Konzert und typischer Liturgie noch alles ereignen könnte, das wäre durchaus spannend.
Das Interview führte Mathias Peter.
INFO: Das komplette Gespräch mit Musikbeispielen wird am Sonntagabend ab 20 Uhr im Radioprogramm von DOMRADIO.DE ausgestrahlt!