Beratungsstellen durch Inflationskrise stärker gefragt

"Viel passiert zwischen Tür und Angel"

Die Inflation trifft vor allem arme Menschen. Sie können sich kaum noch vernünftige Lebensmittel leisten, oder ihre Strompreise bezahlen, weiß Christina Kurtsiefer. Sie bemerkt aber auch eine stärkere Solidarität zwischen Nachbarn.

Energiekrise verstärkt verdeckte Armut / © Marco de Benedictis (shutterstock)
Energiekrise verstärkt verdeckte Armut / © Marco de Benedictis ( shutterstock )

DOMRADIO.DE: Ihr Telefon klingelt seit einigen Wochen deutlich häufiger, oder?

Christina Kurtsiefer (Sozialarbeiterin und Sozialpädagogin): Ja, das ist tatsächlich so. Viel passiert aber auch zwischen Tür und Angel. Ich bin viel hier im Quartier in Roggendorf unterwegs und treffe die Menschen auf der Straße. Die sprechen mich dann einfach an und erzählen, was ihre Not ist.

DOMRADIO.DE: Viele Menschen, die Hilfe bei ihnen suchen, beziehen Sozialleistungen. Was bedeutet für diese Menschen ganz konkret diese Inflationskrise?

Kurtsiefer: Die sagen zum Beispiel: 'Ich kann mir meinen Lieblingskäse nicht mehr leisten', was für einige schon sehr tragisch ist. Der kostet dann ungefähr doppelt so viel. Sie verzichten auf Fleisch, oder sie kaufen nur sehr wenig Fleisch. Es geht um Nebenkosten, um Strom, der massiv im Preis gestiegen ist, um Abschlagszahlungen, die sie sich einfach nicht leisten können. Und am Monatsende haben sie einfach kein Geld mehr für ihre Einkäufe. Das ist schon sehr dramatisch.

DOMRADIO.DE: Sie bieten auch Kochkurse an. Reagieren Sie da auf die aktuelle Situation und versuchen Tipps zu geben, wie man besonders günstig, aber trotzdem gesund kochen kann?

Kurtsiefer: Das versuchen wir, klar. Dass wir darauf eingehen und schauen, wie wir da unterstützen können. Aber die Menschen hier vor Ort sind dahingehend Experten und Expertinnen und haben selbst schon ganz gute Tipps. Sie erzählen uns dann, was sie zu Hause kochen und was sie so am Monatsende auch noch auf die Teller bringen. Da können wir auch auf deren Expertise zurückgreifen.

DOMRADIO.DE: Das heißt, gesunde Ernährung, was kommt da auf die Teller, wenn wirklich nicht mehr viel übrig ist?

Kurtsiefer: Ganz oft ist es so, dass geguckt wird, was überhaupt noch im Kühlschrank ist. Dann wird eine – ich will es nicht Küchenabfall-Pastete nennen – dann wird irgendein Gericht aus den Dingen kreiert, die noch da sind. Salat ist ein Thema. Der wird auch manchmal gemacht, auch Nudeln. Häufig sind es nicht die gesündesten Sachen. Aber da versuchen wir ein bisschen Einfluss zu nehmen.

Christina Kurtsiefer, Sozialarbeiterin und Sozialpädagogin

"Da wird sich in den Familien auch überlegt, ob sie sich überhaupt noch Weihnachtsgeschenke leisten können, oder nicht"

DOMRADIO.DE: Wenn Sie solche Geschichten hören wie 'Ich kann mir meinen Lieblingskäse im Aldi nicht mehr leisten', macht das auch was mit Ihnen persönlich?

Kurtsiefer: Das ist schon tragisch. Da sagen sie, dass sie schon total auf das gucken, was sie sich leisten können und dann geht noch nicht mal mehr der Lieblingskäse im Aldi. Das finde ich schon sehr traurig.

DOMRADIO.DE: Thema Energiekosten, der zweite große Batzen, der auf uns alle zukommt. Wenn der monatliche Abschlag um über 40 Prozent steigt, wie können Sie denn da überhaupt helfen, wenn jemand das einfach nicht bezahlen kann?

Kurtsiefer: Da können wir außer beratend tätig zu sein leider nur sehr wenig machen. Wir können mal über einen Notfallfonds einkaufen gehen, aber viel mehr auch nicht. Beim Strom ist es ja so, dass der in Regelleistung bezahlt werden muss. Und dann kann man sagen, dass man bei der Abschlagszahlung bzw. bei der Erhöhung nicht mitgeht, aber dann kommt am Ende des Jahres eine Nebenkostenabrechnung, die bezahlt werden muss oder es kommt eine Nachzahlung. Zwar kann man ein Darlehen beim Jobcenter beantragen, aber das muss die Familie oder der Mensch, der vor uns steht, ja trotzdem zahlen. Die Zahlung verschiebt sich einfach nur. Da kann man leider nicht viel machen.

DOMRADIO.DE: Die Inflationskrise verstärkt die Ungleichheit im Land und trifft diejenigen am härtesten, die sowieso schon kaum wissen, wie sie über den Monat kommen sollen. Die schwächste Bevölkerungsgruppen sind immer Kinder und die Jugendliche. Trifft es die am härtesten?

Kurtsiefer: Schwer zu sagen, aber die trifft es auf jeden Fall auch, sie sind ja noch viel mehr auf Hilfe und Unterstützung angewiesen. Da wird sich in den Familien auch überlegt, ob sie sich überhaupt noch Weihnachtsgeschenke leisten können oder nicht. Die trifft es schwer. Allerdings trifft es auch Seniorinnen und Senioren schwer an einigen Stellen.

DOMRADIO.DE: Bemerken Sie denn vielleicht auch einen gesteigerten Zusammenhalt etwa im Bereich Nachbarschaftshilfe?

Kurtsiefer: Glücklicherweise ist das hier im Roggendorf sehr wohl zu bemerken. Es gibt wirklich eine Solidarität unter den Nachbarn und Nachbarinnen. Die helfen sich schon gegenseitig. Gott sei Dank.

Das Interview führte Verena Tröster.

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Gestapelte Geldstücke / © Lens7 (shutterstock)
Quelle:
DR