Benedikt XVI. selbst wollte, dass sein letztes Werk mit dem Titel "Was ist das Christentum?" erst nach seinem Tod und zuerst auf Italienisch erscheint. Er habe befürchtet, dass die Wut seiner Kritiker in Deutschland so vehement sei, dass seine Worte dort heftige Reaktionen auslösen würden. Das habe er vermeiden wollen.
So berichtet es Ratzingers Übersetzer und Herausgeber, der italienische Journalist Elio Guerriero, im Vorwort zu dem Buch, das am 18. Januar erschien. Es liegt nun neben dem Buch "Nichts als die Wahrheit", in dem Erzbischof Georg Gänswein von seinem Leben mit dem Ex-Papst erzählt.
Einige Texte schon früher erschienen
Gänsweins Buch sorgte wegen einiger Indiskretionen für große Aufmerksamkeit. Aber auch die Sammlung Aufsätze des emeritierten Papstes zieht vor allem deshalb das Interesse auf sich, weil sie zeigt, worüber der frühere Professor und Papst nachgedacht hat. Und es enthält einige spannende Thesen für die innerkirchliche Debatte - und auch für den Dialog mit Protestanten und Muslimen.
Einige der Texte sind schon früher anderswo erschienen - etwa die viel kritisierten Einlassungen zum gehäuften sexuellen Missbrauch durch Kleriker in den 1970er Jahren oder der christlich-jüdische Briefwechsel mit dem damaligen Wiener Oberrabbiner Arie Folger von 2018. Einen Aufsatz hat Benedikt XVI. um ein beachtliches erstes Kapitel erweitert: Es ist der Text über das Priesteramt und den Zölibat, der Anfang 2020 schon einmal Furore gemacht hatte.
Damals hatte Kardinal Robert Sarah ihn in einem Buch veröffentlicht, das Benedikt XVI. in irreführender Weise als Ko-Autor nannte. In seinem neuen Vorspann setzt sich der ehemalige Papst in aller Schärfe mit einem seiner Lieblingsgegner auseinander, dem Reformator Martin Luther.
"Ratzinger in Hochform"
Auch wer den Argumenten nicht folgen mag, findet hier noch einmal "Ratzinger in Hochform": Messerscharf argumentiert und mit einem gedanklichen Bogen, der vom Alten Testament bis zur heutigen Form der Messfeier reicht, attackiert der Luthers Idee einer nicht-priesterlichen Kirche als irreführend und verkürzt; letztendlich wirft er Luther vor, dass er weder das Alte noch das Neue Testament noch deren Verbindung untereinander richtig verstanden habe. Dass er als Konsequenz auch die "Interkommunion" von Protestanten und Katholiken ablehnt, ist beinahe selbstredend. Allein für diese kleine theologische Polemik lohnt sich das Buch.
Nicht alle Texte in dem Buch haben diese Qualität. Manchmal blitzt nur kurz die Schärfe und Formulierungskraft auf, die Ratzinger als Professor beliebt und seine Bücher zu Bestsellern gemacht haben - etwa, wenn er den grundlegenden Unterschied von Koran und Bibel skizziert und damit eine Spielart des heute gerne praktizierten islamisch-christlichen Dialogs für unmöglich erklärt.
Kampf um vergangene Schlachten
An etlichen Stellen kämpft er noch einmal längst vergangene Schlachten. Immer wieder gegen Luther, aber auch gegen spätere Theologen - von Adolf von Harnack bis zu Karl Rahner. Und er schreibt eine Art Liebeserklärung an seinen Namensgeber, den Zimmermann Joseph, der zwar für Jesus die Vaterrolle übernahm, von dem aber - anders als von Maria - kein einziges Wort in der Bibel überliefert wurde.
Die insgesamt 16 Texte, die meisten wurden um das Jahr 2018 geschrieben, die letzten im Jahr 2022, geben einen Einblick in die Gedankenwelt des wohl berühmtesten Pensionärs des 21. Jahrhunderts.
Sie zeigen, dass er offensichtlich noch bis kurz vor seinem Tod geistig hellwach war und sehr präzise formulieren konnte - auch wenn seine Stimme gegen Ende nur noch ein Hauch gewesen sein soll.