DOMRADIO.DE: Bei welchem Thema erleben Sie eine besonders starke Spaltung der Gesellschaft?
Pater Anselm Grün (Benediktinerpater, Bestseller-Autor): Das eine sind die Verschwörungstheorien. Da erlebe ich, dass Freundschaften gespalten werden, Familien gespalten werden. Natürlich auch die politische Diskussion: Man hört nicht mehr auf den anderen, was er denkt, sondern man hat sofort seine Meinung. In den sozialen Medien vertritt man einfach seine Meinung, ohne auf die Meinung des anderen zu achten, zu hören. Man hat sofort recht und die Fähigkeit hinzuhören und zu verstehen, wird immer kleiner.
DOMRADIO.DE: Sie haben gesagt, dass Sehnsucht nach Versöhnung und Verbundenheit diese Spaltungen überwinden könnte. Wie kann das in der Praxis funktionieren?
Pater Anselm: Versöhnung heißt, dass ich zunächst mal an den Anderen glaube. Nicht nur das Negative und das Feindliche in ihm sehe, sondern dass jeder ein Mensch ist, der die Sehnsucht nach Frieden hat, der die Sehnsucht nach Versöhnung hat. Und nur wenn ich an diese Sehnsucht glaube, kann ich mit dem Anderen so sprechen, dass Versöhnung möglich ist. Versöhnung heißt natürlich auch erst, dass ich mich mit mir selber versöhne. Denn viele Menschen sind in sich selber gespalten, und die Spaltung wird dann auch nach außen übertragen.
DOMRADIO.DE: Verständnis füreinander aufbringen ist ja auch nicht immer einfach, wenn man sich zum Beispiel gar nicht erst auf Fakten einigen kann, Fakten gar nicht erst akzeptiert, sondern an Verschwörungen glaubt, dann ist das mit dem Verständnis wahrscheinlich nicht so einfach.
Pater Anselm: Ja, dann geht es nicht darum, sachlich darüber zu diskutieren, wer jetzt recht hat. Denn dann verfangen wir uns total. Sondern es geht darum, zu klären, welche Angst eigentlich dahintersteckt? Oder: Warum denkst du so? Und was macht es mit dir? Also, dass ich auf die Person achte.
Es hat immer einen Grund, wenn einer so eine Verschwörungstheorie hat. Wahrscheinlich ist es eine Angst vor der Zukunft. Und wenn man über die Angst spricht, dann begegne ich den Menschen wirklich. Natürlich gibt es Menschen, die sich hinter Verschwörungstheorien verstecken, wo ich auch nicht drankomme. Dann muss ich das auch akzeptieren. Ich lehne diesen Menschen nicht ab, aber ich akzeptiere, dass ich momentan keinen Zugang zu ihm finde.
DOMRADIO.DE: Also lieber an die Gefühle appellieren, als die Fakten zu diskutieren?
Pater Anselm: Ja, denn es gibt dann 1000 Argumente und da kann man endlos diskutieren.
DOMRADIO.DE: Aber den Streit einfach runterschlucken und ignorieren ist wahrscheinlich auch nicht die richtige Lösung?
Pater Anselm: Nein, schon miteinander sprechen. Aber auf jeden Fall sollte man nicht rein faktisch diskutieren, sondern mit den Menschen persönlich sprechen, den Menschen begegnen und eben nicht nur seiner Theorie, sondern zu schauen, was dahinter steckt.
Was ist seine Geschichte, wie kommt er dazu, so zu denken. Dann spürt er, dass ich zumindest Interesse an ihm habe. Viele Menschen flüchten in solche Theorien, weil sie sich ungehört fühlen, weil sie das Gefühl haben, ihre Stimme wird überhaupt nicht gehört. Das Erste ist das Hören; und dann das Versuchen zu verstehen und nicht zu bewerten. Aber dann natürlich, wenn einer fest bei seinen Verschwörungstheorien bleibt, ist auch wichtig, das zu lassen und zu sagen: Ich gebe diesen Menschen nicht auf. Ich hoffe, dass irgendwann Versöhnung möglich ist, aber jetzt eben nicht.
DOMRADIO.DE: "Zeit für Versöhnung" heißt Ihr Buch. Für welche Personen oder für welchen Personenkreis ist das Buch am besten geeignet?
Pater Anselm: Für alle im Familienkreis. Es geht ja auch um Versöhnung in der Partnerschaft. Da gibt es häufig viele Konflikte, dann in der Firma, in der Kirche gibt es ja auch die verschiedenen Gruppierungen, die oft unfähig sind, miteinander ins Gespräch zu kommen. Da geht es auch um Versöhnung zwischen konservativ und liberal. Versöhnung aber auch in der Gesellschaft, zwischen den verschiedenen politischen Parteien und natürlich auch zwischen den Völkern. Ich denke, die Versöhnung zwischen Deutschland und Frankreich hat ja Europa ein neues Gesicht gegeben. Umso wichtiger wäre jetzt auch die Versöhnung zwischen Ukraine und Russland. Aber natürlich sind wir da ein Stück ohnmächtig. Wir können nur hoffen, dass irgendwann Gott den Mächtigen andere Gedanken gibt.
Das Interview führte Florian Helbig.