DOMRADIO.DE: Was ist denn der Unterschied Ihrer Friedensinitiative zum "Manifest für den Frieden" von Sahra Wagenknecht und Alice Schwarzer, der vor einigen Wochen publik wurde?
Wolfgang Thierse (SPD-Politiker, ehemaliger Bundestagspräsident und langjähriges Mitglied im Zentralkomitee der deutschen Katholiken): Wir unterstützen die militärische Hilfe für die Ukraine. Wir sind solidarisch mit ihr. Und wir meinen nur, dass das nach über einem Jahr Krieg nicht das Einzige sein kann.
Nun muss während und neben der notwendigen militärischen Unterstützung, um die russische Aggression zu stoppen, der Versuch treten, wieder politische Perspektiven auf den Frieden zu eröffnen.
DOMRADIO.DE: Sie fordern Bundeskanzler Olaf Scholz auf, sich für Friedensverhandlungen in der Ukraine einzusetzen, auch einen Waffenstillstand zusammen mit Frankreich, Brasilien, China und anderen Ländern zu erwirken. Was aber, wenn das Gegenüber dafür nicht bereit ist, so wie in dem Fall Putin?
Thierse: Können wir uns damit beruhigen, dass er nicht bereit ist? Wollen wir uns damit beruhigen, dass der Krieg weitergeht bis zu einem totalen Sieg, einer totalen Niederlage, welcher Seite auch immer? Haben nicht die Dritten, diejenigen, die nicht unmittelbar Konfliktpartner sind, die Pflicht, jeden nur denkbaren Versuch zu unternehmen, auch wenn er zunächst zum Scheitern verurteilt scheint, einen Waffenstillstand zu ermöglichen und dann auch zum Frieden zu kommen?
Denn wie auch immer der Krieg endet, er muss ja irgendwann enden und hoffentlich, ohne dass die Ukraine total zerstört ist.
Dann ist Russland immer noch da, dann ist Russland immer noch ein wichtiger Teil Europas, weil es ein so riesiges Land und zudem noch eine Atommacht ist. Das muss man ja mit bedenken und deswegen ermutigen wir den Bundeskanzler.
Das ist keine Kritik am Bundeskanzler, sondern wir ermutigen ihn gemeinsam mit Frankreich, noch einmal die Initiative zu ergreifen und dritte Staaten dazu zu gewinnen. Indien, Brasilien, Indonesien und China sind genannt, aber die müssen ja nicht alleine bleiben. Sie sollen nochmal versuchen auf Russland Einfluss zu nehmen, sodass sie sich vielleicht an den Verhandlungstisch setzen und die Waffen schweigen lassen, damit man dann zu einer Lösung kommt, die noch nicht bekannt ist.
DOMRADIO.DE: Friedensappelle gab es schon sehr viele. Der ukrainische Botschafter Oleksii Makeiev hält das Ganze für zynisch. Wie sollten denn Ihrer Meinung nach realistische Friedensverhandlungen aussehen?
Thierse: Entschuldigen Sie, wenn einer sagt, das sei zynisch oder wenn man aus der Ukraine kommt, das sei senil und zynisch, dann frage ich mich: Ist schon die Überlegung, wie ein Krieg zu Ende gehen kann, etwas Zynisches? Sind wir so weit gekommen, dass die Überlegung, wie man diesen furchtbaren Krieg, der so viele Opfer fordert, beenden kann, schon zynisch sein soll?
Dass die ukrainische Konfliktpartei als Leidende heftig reagiert, kann man nachvollziehen. Aber man muss diesen Standpunkt doch nicht teilen. Denn so wichtig und notwendig die militärische Solidarität mit der Ukraine ist, kann und darf das doch nicht alles sein. Es muss immer wieder neu versucht werden, eine politische Perspektive zu eröffnen.
DOMRADIO.DE: Braucht man da vielleicht mehr Kompromissbereitschaft? Die russische Führung hat ganz eigene Vorstellungen von Verhandlungen. Die sagen nicht, man sei bereit für Verhandlungen, sondern die Ukraine solle die Staatsgebiete an Russland abtreten.
Thierse: Natürlich muss man Kompromissbereitschaft von beiden Seiten, auch von der ukrainischen Seite erst recht fordern. Vor einem Dreivierteljahr hat der ukrainische Präsident schon so etwas eröffnet, dass man bereit sei. Inzwischen hat sich die Sache zugespitzt, dass davon kaum noch die Rede ist.
Aber dass man gewissermaßen als dritte Partei, die nicht selber unmittelbare Kombattanten sind, überlegt, wie das enden kann, wenn die Eskalation nicht immer weitergetrieben werden muss und wenn man Präsident Putin nicht immer das Heft des Handelns überlassen will, immer die nächste Eskalationsstufe akzeptiert, ist doch nachvollziehbar.
Wir müssen aus Solidarität mit der Ukraine richtigerweise gegenhalten. Dann ist die Aufforderung danach, etwas noch einmal in, während und neben der militärischen Unterstützung zu versuchen und zu schauen, was vielleicht sinnvoll möglich ist, doch legitim.
DOMRADIO.DE: Und die Lieferung weiterer schwerer Waffen ist mit der christlichen Friedensethik auch für Sie vereinbar?
Thierse: Pazifistisch kann man nur für sich selber sein. Man darf nicht von anderen Wehrlosigkeit verlangen, zumal von Menschen, die überfallen worden sind.
Es gibt das legitime Recht auf Selbstverteidigung und auch das legitime Recht, dafür Solidarität in Anspruch zu nehmen.
Das Interview führte Elena Hong.