DOMRADIO.DE: Wie viel historischen Hintergrund brauchen wir, um abschätzen zu können, in welche Richtung sich das Christentum in Europa weiterentwickeln wird?
Prof. Heinz Schilling (Professor für Europäische Geschichte der frühen Neuzeit an der Humboldt-Universität in Berlin): Wir brauchen weit mehr Geschichte, als es heute in der Bildung der nächsten Generation üblich ist. Wir können ohne Geschichte weder die Position und die Probleme der Kirchen innerhalb sich selbst verstehen noch in welche Richtung sich die Gesellschaft mit einem Christentum entwickeln wird, das wieder Fuß gefasst hat, oder mit einem Christentum, das von einer Krise in die andere fällt.
Und das zweite scheint mir augenblicklich eher die Gefahr zu sein. Um zu begreifen, was das Christentum für unsere Welt jetzt und in Zukunft bedeutet, muss man wissen, was das Christentum geleistet hat. Aber es geht mir nicht um eine Hagiographie des Christentums, sondern um eine reale Beschreibung dessen, was das Christentum in der Welt bewirkt hat – positiv, aber eben auch mit allen kritischen Momenten, die es notwendigerweise gibt, wenn eine Großinstitution oder Menschen, die sich dieser Großinstitution verbunden haben, in der Welt wirken.
Das geht nicht nur mit Glanz, sondern ist auch mit viel Finsternis verbunden. Das zu begreifen und distanziert auf die Geschichte zu blicken, scheint mir wichtig zu sein. Vor allen Dingen wichtig in einer Situation, wo die Kirchen selbst nicht wissen, wie sie sich definieren müssen.
DOMRADIO.DE: Wenn wir uns denn die religiös motivierten Konflikte der frühen Neuzeit angucken, können wir daraus für die Zukunft etwas lernen und auch für die zunehmende Unversöhnlichkeit der Weltanschauungen heute?
Schilling: Ja, das können wir mit Sicherheit: Mit einer Umdeutung der Reformation und Renaissance, aber auch von dem, was an die Reformation anschließt, das Zeitalter der Konfessionalisierung mit großen Glaubenskriegen, aber eben auch mit der Möglichkeit und mit der Fähigkeit zu einem friedlichen Miteinander. Bei den heutigen Konflikten, konkret auch beim Islam, ist viel Fundamentalismus zu erkennen.
Da kann die Zeit, wo das Christentum selbst in einer tiefen Feindschaft gegeneinander stand, also ganz konkret zwischen katholischer Konfession und den protestantischen Konfessionen, sehr lehrreich sein.
Dort wird deutlich, dass gerade das Christentum auch Kräfte entwickelt hat, wie man aus diesem Fundamentalismus herausgekommen ist. Alles das, was wir heute als moderne Welt definieren, wie Liberalismus, die Freiheit des Glaubens und des Denkens bis hin zur Demokratie, wäre nicht möglich gewesen, wenn das Christentum auf der mittelalterlichen Basis einer undiskutierten Einheit verharrt wäre. Dieses tiefen Ringen der Gegensätze, der Streit um Grundsatzpositionen hat die moderne Welt erst hervorgebracht.
Das heißt, die Kirchen haben die Welt, mit der sie jetzt zurechtkommen oder nicht zurechtkommen, selbst hervorgebracht. Und dazu sollten sie sich bekennen. Das muss man aber auch der Gesellschaft sagen. Gerade jetzt, im konkreten Fall der Missbrauchsfälle in der katholischen Kirche. Das sollte aber nicht reflexartig passieren, sondern reflektiert über die Position der Kirche und der Menschen, in der Kirche, in den verschiedenen Epochen.
Und umgekehrt sollte eben auch die säkulare Gesellschaft begreifen und anerkennen, dass man nicht von vornherein einfach das Christentum verurteilt.
Es muss dargestellt werden, wie in der konkreten Situation, in denen Christen in der Welt seit dem vierten Jahrhundert, als das Christentum als Staatsreligion anerkannt worden ist, in der Welt handeln. Und wenn man diese positiven und negativen Impulse genauestens beschreibt, gerade während des 16. und 17. Jahrhunderts, dann wird man sehen, dass hier die Grundlage der modernen Welt gelegt worden ist.
DOMRADIO.DE: Der Synodale Weg ist gerade der Veränderungsprozess der katholischen Kirche. Wie betrachten Sie den im historischen Gesamtkontext? Welche Rolle spielt der Synodalen Weg denn für die Zukunft des Christentums in Europa?
Schilling: Das ist für mich als Profanhistoriker und Protestant etwas schwierig einzuschätzen. Dem Katholizismus ist immer nicht ganz zu Unrecht, aber auch nicht ganz zu Recht unterstellt worden, er habe die Modernität verschlafen. Das geht auf Pius IX. zurück mit seiner radikalen Antimodernismus-Theologie und Antimodernismus-Politik im 19. Jahrhundert. Ich denke, dass mit dem Synodalen Weg gerade auch hier in Deutschland etwas aufgearbeitet wird, was da anders gelaufen ist als in den anderen Konfessionen.
Das Furchtbare finde ich, dass der Synodale Weg in irgendeiner Weise immer mit der Frage des Missbrauchs in der katholischen Kirche verquickt ist. Zum anderen handelt es sich beim Synodalen Weg um eine spezifische Situation aus Mitteleuropa. Wie weit die weltkirchlichen Zusammenhänge dabei ausgeklinkt werden können oder sogar müssen, wird man sehen. Jedenfalls verstand ich ganz gut als Papst Franziskus sagte: "In Mitteleuropa gibt es doch eine vorzügliche protestantische Kirche. Warum wollen wir die kopieren?"
Ob der Synodale Weg die protestantischen Kirchen kopieren will, kann ich nicht so recht sagen. Der Synodale Weg agiert innerhalb des protestantisch geprägten Umfeld Deutschlands oder Mitteleuropas. Sicherlich hat der Synodale Weg in diesem Umfeld viele gute Impulse bekommen, wo aber auch die über Jahrhunderte lang vorhandene Spannung und Konkurrenz zwischen den beiden Konfessionen wirken. Ich bin ja der Meinung, dass es just diese Konkurrenz war, die die moderne Welt hervorgebracht hat. Aber es ist dennoch so, dass man hier im deutschen Raum anders agiert und anders beurteilt wird als in einer Weltkirche.
Das Interview führte Dagmar Peters.
Information der Redaktion: Buch "Das Christentum und die Entstehung des modernen Europa" von Prof. Heinz Schilling, Herder Verlag