DOMRADIO.DE: Dreimal am Tag strömen Tausende Jugendliche in Taizé in die Kirche. Warum funktioniert das in Taizé?
Frère Sebastien Kusse (Taizé-Bruder und Medienverantwortlicher der Taizé-Gemeinschaft): Das ist eine schwierige Frage, auf die wir keine richtige Antwort haben. Wir wissen es einfach nicht genau. Wir haben keine Formel, die wir da anwenden. Ich glaube, wenn man vorher einem Jugendlichen sagt, wir gehen an einen Ort, an dem wir drei Mal am Tag in die Kirche gehen, dann schreckt das ab. Aber eigentlich ist genau das Taizé: diese drei Gebete, die Stille und das abends noch lange gemeinsam in der Kirche bleiben. In Taizé ist das ganz leicht, fast natürlich. Die Jugendlichen dort empfinden das Gebet nicht als "Fremdkörper" oder als etwas nur für alte Leute.
Außerdem hört in Taizé alles auf, ihr Alltag und der Druck, unter dem die Jugendlichen heute stehen. Ich bin etwas älter als die meisten Jugendlichen hier. Als ich das erste Mal nach Taizé kam, war das noch anders. Ich spürte diesen großen Druck von Seiten der Schule nicht und was die Gesellschaft von mir erwartet. Jetzt gibt es sogar schon unter Jugendlichen Burnout, unter 18-jährigen oder 20-jährigen. Das höre ich oft, wenn ich mit Niederländern spreche. Ich spüre auch, dass es viel mehr Druck gibt.
Auch Social Media macht Druck. Ich muss gut aussehen, ich muss beliebt sein, immer fröhlich, immer ein Lächeln im Gesicht haben. Das ist nicht die Realität. Viele Jugendliche leiden. Viele Jugendliche machen sehr schwierige Zeiten durch, zum Beispiel in ihrer Familie. Ich habe das Gefühl, in Taizé brauchen sie sich nicht verstellen. Sie können einfach sie selber sein, so wie sie sind. Das ist besonders in Taizé.
DOMRADIO.DE: Bei Ihnen funktioniert dieses Konzept sehr gut. Wir haben aber viele Gemeinden, die Nachwuchs bräuchten. Wir haben viele Kirchenaustritte. Wie schaut die Gemeinschaft von Taizé auf diese Entwicklung?
Frère Sebastien: Wir sind nicht glücklich darüber. Wir in Taizé sind keine eigene Organisation. Wir sind keine Kirche und auch keine Jugendbewegung. Die Jugendlichen, die hierhin kommen, fahren eine Woche später wieder nach Hause und wir hoffen, dass sie zuhause einen Ort haben, wo sie empfangen werden, wo sie weitergehen, in ihrem Glauben weiter wachsen und ihre Fragen stellen können.
Es darf nicht sein, dass das nur in Taizé möglich ist, also etwa einmal im Jahr. Deshalb wollen wir mit den Ortskirchen zusammenarbeiten. Aber wir wissen, dass das nicht leicht ist. Gerade in Deutschland gibt es zurzeit andere Probleme. Wir überlegen, wie wir helfen können, aber auch wir haben keine einfache Lösung dafür.
DOMRADIO.DE: Nicht nur in Deutschland, auch in Frankreich sind ein Hauptgrund für diese Kirchenkrise die Missbrauchsfälle innerhalb der Kirche. Ist dafür auch in Taizé das Bewusstsein gewachsen?
Frère Sebastien: Auch wir in Taizé sind mit einigen Fällen konfrontiert und wir sprechen seit etwa zweieinhalb oder drei Jahren mit den Jugendlichen darüber. Jede Woche gibt es dazu auch einen Workshop. Denn wir glauben, man muss über dieses Problem ganz ehrlich und offen sprechen. Es ist falsch, sich darüber Gedanken zu machen, welches Bild man abgibt oder was die Leute denken. Das ist nicht nur unser Problem, sondern ein Grundproblem in dieser Welt. Wir denken immer darüber nach, was die Leute über uns denken, welches Bild sie von uns haben. Wieso kann man nicht einfach sagen: "Ich habe Fehler gemacht, aber ich bin hier um das Gute zu tun und weiterzugehen?"
DOMRADIO.DE: Um Reformen geht es auch bei der Weltsynode 2023. Welche Bedeutung hat diese Synode für die Gemeinschaft, die ja daran beteiligt ist?
Frère Sebastien: Wir sind froh, dass wir etwas machen können. Wir erfolgreich wir sein werden, können wir nicht absehen. Das kann man niemals wissen. Auch wie erfolgreich die Treffen mit den Jugendlichen sein werden, können wir nicht abmessen. Wir denken, dass der gemeinsame Austausch zwischen Bischöfen, Laien und mit Rom sehr wichtig ist, diese Synodalität. Wir sind gemeinsam Kirche, das ist nicht nur eine Frage von Hierarchie bei der ein Mann beziehungsweise ein Papst alles entscheidet. Wir sind ein Volk Gottes.
Das sind Worte, die aus dem Zweiten Vatikanischen Konzil kommen. Zwei unserer Brüder, Frère Roger und Frère Max waren damals beim Zweiten Vatikanischen Konzil eingeladen, nicht offiziell, aber als Zuschauer. Sie haben mit vielen Bischöfen gesprochen und haben dadurch vielleicht auch ein wenig Einfluss gehabt in diesem Prozess. Es gab daraufhin viele Veränderungen, aber etliche Veränderungen sind noch nicht wirklich bis zum Ende umgesetzt worden. Diese Synode ist vielleicht ein Weg, um dieses Zweite Vatikanische Konzil ein wenig weiter zu gehen. Wir wollen sehr gerne dabei sein und mithelfen. Wir sind da mit der ganzen Weltkirche solidarisch.
DOMRADIO.DE: Ich denke, es ist ein Zeichen, dass Papst Franziskus alle Gemeinden einlädt. Es ist ein Zeichen der Ökumene. Dafür steht auch Taizé. Wo ist in der katholischen Kirche noch Luft nach oben beim Thema Ökumene? Ich denke nur an die Eucharistiefeier. Das könnte hier auch ein Modell sein.
Frère Sebastien: Wir versuchen, kein Modell zu sein. Wir sind ein kleines Zeichen für Einheit, aber wir sagen, wir sind kein Modell für Einheit. Wir sind keine Ortsgemeinde, wir sind eine Gemeinschaft von Brüdern, die aus verschiedenen Kirchen kommen, natürlich auch aus der katholischen. Aber wir sind keine neue Kirche, keine Bewegung, kein Modell.
Was ist Ökumene? Es ist das Gefühl, dass wir etwas miteinander gemeinsam haben. Wenn ich Protestant bin, geht es mich auch etwas an, was in der katholischen Kirche passiert. Wenn ich ein katholischer Bischof wäre, müsste ich auch darauf schauen, was in der evangelischen Kirche passiert. Das ist auch mein Problem, das geht auch mich was an. Was passiert in der orientalischen Kirche oder in der orthodoxen Kirche? Auch das betrifft mich. Ich bin nicht nur da, um meine eigene Kirche zu schützen oder ähnliches. Wir haben mit all diesen Christen und mit allen anderen Kirchen zu tun. Wir sind ein Volk Gottes.
DOMRADIO.DE: Die Corona-Pandemie hat die Gemeinschaft von Taizé erschüttert. Es waren zwei sehr leere Jahre in Taizé. Welche Nachwirkungen spüren Sie von der Pandemie?
Frère Sebastien: Das war sehr schwer für uns. Jugendgruppen, die jedes Jahr mit ihren Gruppenleitern kamen, waren zwei, drei Jahre nicht mehr da. Für Jugendliche ist das eine Generation. Es gab mehrere große Gruppen und die sind einfach nicht mehr da. In diesem Jahr kommen wieder einige zurück, aber mit viel weniger Jugendlichen und das muss wieder wachsen.
Auch für unsere Gemeinschaft ist das schwierig, denn wir müssen unser eigenes Brot verdienen. Wir nehmen keine Spenden oder ähnliches an. Das war in der Corona-Pandemie sehr schwer, wir konnten nichts verkaufen. Wir mussten sehr kreativ sein. Wir backen jetzt kleine Kekse und haben angefangen, Seife zu produzieren. Wir haben sehr viel mehr und tiefergehend über Ökologie nachgedacht und was wir da machen müssen. Wir hatten dafür Zeit. Wir haben diese Corona-Zeit dafür genutzt, um uns gegenseitig viel mehr über diese Fragen der Ökologie auszutauschen.
Jetzt ist das Essen, was wir anbieten zum Beispiel vegetarisch und es gibt nur noch wenig Fleisch, dafür muss man in einer separaten Schlange anstehen. Es gibt nun eine lange Schlange mit Menschen, die nur wenig Fleisch wollen. Vor Corona war das noch umgekehrt, das ist eine große Veränderung. Wir denken nun viel mehr über die Zukunft der Erde nach, über das Klima und die Ökologie.
Das Interview führte Elena Hong.