Politikerin Löhrmann erinnert an Brandanschlag in Solingen

"Es gibt noch viel zu tun"

Vor 30 Jahren verübten Neonazis in Solingen einen Brandanschlag auf das Haus der Familie Genc. Fünf Menschen starben. Die Grünen-Politikerin Sylvia Löhrmann hat den Anschlag miterlebt und blickt auf die heutige Situation in Solingen.

Brandanschlag auf eine türkische Familie in Solingen am 29.05.1993 / © Rainer F. Steußloff (epd)
Brandanschlag auf eine türkische Familie in Solingen am 29.05.1993 / © Rainer F. Steußloff ( epd )

DOMRADIO.DE: Wie haben Sie den 29. Mai 1993 erlebt? 

Sylvia Löhrmann hat als Lehrerin und Schulministerin für gerechtere Schulen gekämpft (privat)
Sylvia Löhrmann hat als Lehrerin und Schulministerin für gerechtere Schulen gekämpft / ( privat )

Sylvia Löhrmann (Grünen-Politikerin und Zeitzeugin): Ich habe den Tag erstmal als normalen Pfingsttag erlebt, bis wir Sirenen in der Nacht gehört haben. Damals gab es noch keine Handys und keine SMS. Wir wollten in unsere Partnerstadt nach Aue fahren und hörten dann im Radio, dass in Solingen dieser Anschlag verübt worden war und dass sich die Fraktionsvorsitzenden zusammensetzen. Da haben wir natürlich sofort Kehrt gemacht.

Ich habe damals an allen wichtigen Besprechungen teilgenommen. Das war ein Schock, es war furchtbar und hat uns umgeworfen. Kinder und Jugendliche mit verschiedenen Nationalitäten, die ich unterrichtet habe, haben gesagt, dass es auch deren Haus hätte sein können. Das war ein einschneidendes Ereignis für die Stadtgesellschaft. 

DOMRADIO.DE: Der damalige Bundeskanzler Helmut Kohl hat nicht an der Trauerfeier für die Opfer teilgenommen, weil er, wie sein Sprecher erklärte, nichts von "Beileidstourismus" hielt. Wie haben Sie das empfunden? 

Löhrmann: Aus meiner Sicht und aus Sicht vieler anderer war das eine Missachtung der Opfer. Und wir müssen uns auch nochmal erinnern, dass der Anschlag am Ende einer Woche stattgefunden hat, nachdem das Asylgesetz in Deutschland verschärft worden war. Es gab Hetze gegen "Ausländer", die angeblich vieles Schuld waren.

Sylvia Löhrmann

"Insofern war das ein Affront, eine Missachtung einer gesellschaftlichen Herausforderungen."

Das Erscheinen des Kanzlers auf der Trauerfeier wäre ein Eingeständnis gewesen, dass der Anschlag, etwas mit der deutschen Gesellschaft und mit der deutschen Politik zu tun gehabt hat, die sich damals nicht als Einwanderungsgesellschaft verstanden hat.

Insofern war das ein Affront, eine Missachtung einer gesellschaftlichen Herausforderungen. Wir waren dankbar, dass zum Beispiel NRW-Ministerpräsident Rau selbstverständlich vor Ort war und viele andere Demokratinnen und Demokraten auch. 

DOMRADIO.DE: Solingen wurde danach in der öffentlichen Berichterstattung zum Symbol für Fremdenfeindlichkeit und stand in einer Reihe mit Hoyerswerda, Mölln, Rostock. Wie hat das die Stadt bis heute verändert? 

Sylvia Löhrmann

"Wenn es in Solingen passiert, kann es überall in Deutschland passieren."

Löhrmann: Es hat die Stadt verändert. Heute ist eine Ausstellung eröffnet worden, die "Den Opfern ein Gesicht, den Betroffenen eine Stimme geben" heißt und in der die Perspektive der Opfer gleichberechtigt gezeigt wird. Die Opfer sind in sehr bewegenden Porträts festgehalten.

Das können sich Menschen im Zentrum für verfolgte Künste anschauen. Rote Flächen zeigen die Anschläge in Deutschland, Solingen ist ja nur ein Beispiel. Wenn es in Solingen passiert, kann es überall in Deutschland passieren.

Das ist der mahnende Auftrag an unsere Gesellschaft, auch heute gegen Rassismus, für Respekt und für Miteinander einzutreten, so wie das Mevlüde Genc, die verstorbene Mutter, die Großmutter, die Tante der Opfer, formuliert hat.

Bemerkenswerterweise hat sie kurz nach dem Anschlag gesagt: "Ich reiche euch die Hände. Wo Liebe ist, kann kein Hass sein. Lasst uns Freunde sein." Diese Botschaft können wir nur immer wieder wiederholen. 

DOMRADIO.DE: Nach Mevlüde Genc ist gestern in Solingen ein Platz benannt worden. Die Frau, die bei diesem Brandanschlag zwei Töchter, zwei Enkelinnen und eine Nichte verloren hat und sich danach für Versöhnung und Verständigung eingesetzt hatte, ist im vergangenen Oktober verstorben. Wie schnell herrschte denn in der Stadt Einigkeit über diese Umbenennung des Platzes? Gab es da auch Gegenstimmen? 

Löhrmann: Es gab jetzt meines Wissens keine Gegenstimmen. Es war ein Wunsch der Familie. Der Platz in der Nähe des Rathauses hieß vorher Mercimek-Platz, nach dem Ort, wo die Familie ursprünglich herstammt. Auf dem Platz gab es erstmals ein Integrationszentrum, dort leben auch viele türkeistämmige Menschen. Es ist ein zentraler Platz in der Stadt.

Für diese Umbenennung haben die Gremien einstimmig votiert. Es gibt aber auch Gegner und auch immer noch Lügen und Gerüchte über die Familie. Insofern ist es ein Auftrag der Stadt, aber auch unserer gesamten Gesellschaft, die Wahrheit über Rechtsextremismus, über Rassismus und über Antisemitismus zu erzählen. 

DOMRADIO.DE: Es gab vor 30 Jahren eine ziemlich aufgeheizte Stimmung in Deutschland. Viele Flüchtlinge aus dem ehemaligen Jugoslawien kamen zu uns, das Asylrecht wurde geändert, es gab diesen viel zitierten und gerne benutzten Satz: "Das Boot ist voll". Die Stimmung ist seitdem nicht unbedingt besser geworden. Haben Politik und Gesellschaft etwas aus diesem Anschlag gelernt?

Löhrmann: Die, die lernen wollten, haben gelernt. Aber wir müssen uns vergegenwärtigen, dass wir eine rechtsradikale Partei im Deutschen Bundestag und in vielen Landtagen haben, die weiterhin gegen "Fremde" hetzen. Das passiert in einer Zeit, in der in Solingen 40 Prozent der Kinder eine Zuwanderungsgeschichte haben, in einer Zeit, in der wir Fachkräftemangel haben.

Es hat sich was verändert, aber es bleibt auch noch viel zu tun. Wir haben als Stadtrat damals beschlossen, das kommunale Wahlrecht für Ausländer einzuführen. Das gibt es nach wie vor nicht. Wie sollen sich Menschen hier beheimatet fühlen, wenn sie länger als drei Jahre in einer Stadt wohnen, in der sie nicht mal mitentscheiden dürfen, wer im Stadtrat sitzt?

Das ist ein Beispiel, woran wir sehen, wie viel noch zu tun ist. 

Das Interview führte Elena Hong.

Brandanschlag von Solingen

Der Brandanschlag von Solingen, der sich am 29. Mai zum 25. Mal jährt, war der folgenschwerste ausländerfeindliche Anschlag der deutschen Nachkriegsgeschichte: Zwei Frauen und drei Mädchen wurden getötet, als vier junge Neonazis in der Nacht zum Pfingstsamstag 1993 das Haus der türkischen Familie Genç in der Unteren Wernerstraße anzündeten. Die Tat rief weltweit Entsetzen hervor.

29.05.1993, Solingen: Vor dem abgebrannten Haus bekunden türkische und deutsche Bürger ihr Entsetzen / © Roland Scheidemann (dpa)
29.05.1993, Solingen: Vor dem abgebrannten Haus bekunden türkische und deutsche Bürger ihr Entsetzen / © Roland Scheidemann ( dpa )
Quelle:
DR