DOMRADIO.DE: In Turin gibt es das Grabtuch, in Trier den Heiligen Rock. Das mag vielleicht noch einleuchten, dass es so etwas gibt. Aber die Windeln Jesu: Wirkt so eine Reliquie im Jahr 2023 nicht etwas skurril?
Prof. Dr. Manfred Becker-Huberti (Theologe und Brauchtumsforscher): Das mag sein, für den einen oder anderen ist das sicherlich skurril. Es ist aber über Jahrhunderte gewachsen. Sie können selbst in der Kunst, in der Malerei, bei der Darstellung der Geburt Jesu und den nachfolgenden Wochen sehen, dass dargestellt wird, wie Joseph seine Hosen auszieht und sie der Maria gibt, damit Maria daraus Windeln für das Jesuskind machen kann.
Diese fromme Geschichte, die dahinter steckt, ist, dass man bettelarm war, aber sich zu helfen wusste und man verzichtete, um dem anderen helfen zu können. Diese Idee ist mit diesen Windeln verbunden. Diese Windeln zeigen überdies, dass dieses Jesuskind ein echter Mensch ist. Er ist also einer so wie wir, der Windeln braucht und der gewickelt werden muss, der Fürsorge bedarf. Genau das ist das, was die Menschen mit diesem Bild verbinden. Die Windeln Jesu sind ein Hinweis darauf. Er war ein Mensch wie du und ich.
DOMRADIO.DE: Im Mittelalter hatten Reliquien Hochkonjunktur. Was hat die Menschen damals dazu bewogen, sterbliche Reste von Heiligen oder auch Gegenstände aus dem Leben Jesu in ihre Kirchen oder Kapellen zu holen?
Becker-Huberti: Reliquien machen Glauben begreifbar im ursprünglichen Sinn des Wortes. Man kann etwas berühren, man kann etwas anfassen, sehen, haptisch damit in Kontakt treten, was eigentlich unbegreifbar ist.
Dieser Gegensatz – begreifen, was unbegreifbar ist, macht eben die Reliquien aus. Sie sind Teil dieser Welt und sind Teil der künftigen Welt. Der Heilige hat zwar seinen Körper hier hinterlassen, aber er ist bereits im Himmel. Er wird seinen Körper eines Tages nachholen, weil die Menschen glaubten, dass der Körper der Seligkeit einmal geformt wird, auch aus dem irdischen Körper. Dementsprechend hatte der Körper des Heiligen eine besondere Bedeutung. Man feierte über diesen Körpern den Gottesdienst. Das tun wir bis zum heutigen Tag. Es gibt keinen Altar in einer katholischen Kirche, in dem nicht Reliquien enthalten sind oder unter dem Reliquien liegen.
DOMRADIO.DE: Hatten denn Reliquien auch eine politische Bedeutung? Fühlte sich ein Herrscher mit besonderer Macht oder auch mit militärischer Gewalt ausgestattet, wenn er in Besitz einer bestimmten Reliquie war?
Becker-Huberti: Natürlich. Reliquien waren die Vorläufer der Versicherungen. Die Versicherungen garantieren uns heute bei Feuerschaden oder anderen Schicksalsschlägen eine bestimmte Hilfe. So gab es auch Reliquien, die für bestimmte Dinge zuständig waren und mit deren Hilfe man versuchte, Unheil abzuwehren. So sammelten die Herrscher auch Reliquien, so sammelten auch Städte Reliquien.
Die Stadt Köln hatte einen großen Reliquienschatz. Wenn ihr das Wasser bis zum Halse stand, veranstaltete sie mit den Reliquien eine Bitt-Prozession durch die ganze Stadt. Es konnte nicht schaden, ein paar Reliquien mehr zu haben, denn es könnte ja sein, dass es einen Heiligen gab, der auch noch zusätzlich helfen konnte. Insofern also gibt es gar die merkwürdigsten Erscheinungen. Es gibt deutsche Könige, die Burgen gebaut haben, um ihre Reliquienschätze unterzubringen.
DOMRADIO.DE: Über die Echtheit bestimmter Reliquien wie zum Beispiel Aachen oder Trier wird heute eher selten diskutiert. Meist auch deswegen, weil kaum noch daran geglaubt wird. Heute heißt es eher, sie stellen eine besondere Nähe zu Gott her. Oder man ginge, so sagt man es in Aachen, jetzt auf besondere Tuchfühlung zu Gott. Wie kann das für den aufgeklärten Menschen von heute denn geschehen?
Becker-Huberti: Man muss sich erst einmal darüber klar werden, dass der Begriff "echt" heute im naturwissenschaftlichen Sinne verstanden wird. Das ist in früheren Jahrhunderten nicht der Fall gewesen. "Echt" war etwas, wenn es überzeugend war. Dazu konnte man diese Echtheit im naturwissenschaftlichen Sinne ja in der Regel gar nicht nachweisen.
Diese symbolische Nähe zu dem gezeigten Objekt, also wenn ich das Kleid Mariens sehe und betrachte und dabei über Maria meditiere: Wer war dieses Mädchen? Wer war diese Frau? Wer war diese junge Jüdin, die den Erlöser geboren hat? Dann bin ich genau da, wo die Reliquie mich hinhaben will, nämlich an dem Punkt, wo ich anfange, über etwas nachzudenken. Das Kleid, die Reliquie, ist dabei nur der Anlass. Was dahinter steckt, ist eigentlich das Wesentliche und Interessante. Das hat die Gegenwart wieder entdeckt auf die Art und Weise sich diesen Reliquienschätzen zu nähern.
DOMRADIO.DE: Kann man in diesem Sinne auch Reliquienverehrung ökumenisch verstehen? Gerade wenn man jetzt zum Beispiel sich mit Konfessionen zusammentut, die ursprünglich eigentlich die Verehrung von Reliquien abgelehnt haben?
Becker-Huberti: Ja, die Art und Weise, wie Reliquien früher verehrt wurden, war nicht immer die feine theologische Art. Es ist etwas, von dem man sich durchaus auch heute distanzieren kann. Es geht nicht darum, dass ich mit der Reliquie umgehe wie mit irgendeinem Zauber, den ich einsetzen kann für meine eigenen Zwecke. Sondern die Reliquie steht für sich, sie ist unverfügbar. Genau in diesem Sinne kann sie heute auch überkonfessionell dazu dienen, dass man sich theologischen Inhalten nähert.
Das Interview führte Jan Hendrik Stens.