DOMRADIO.DE liegt ein Offener Brief von Johannes Norpoth, Sprecher des Betroffenenbeirates der Deutschen Bischofskonferenz, an Sr. Anna Mirijam Kaschner, Generalsekretärin der Nordischen Bischofskonferenz, als Antwort auf deren Gastkommentar vom 14.07.2023 vor. Im Folgenden ist der Wortlaut abgebildet:
"Offener Brief zu Ihrem Gastkommentar auf domradio.de"
Sehr geehrte Sr. Anna Mirijam Kaschner,
gestatten Sie, dass ich mich Ihnen vorstelle. Mein Name ist Johannes Norpoth. Ich bin Opfer/Betroffener/Überlebender von sexualisierter Gewalt in der katholischen Kirche und als solcher schreibe ich Ihnen heute diese Zeilen.
Nach Ihrem Gastkommentar, veröffentlicht auf der Website domradio.de am 14.07.23, habe ich zunächst überlegt, ob ich überhaupt darauf reagieren sollte. Ihr Text ist für mich als Missbrauchsbetroffener insgesamt kaum zu ertragen. Meine persönliche Einordnung schwankt zwischen blankem Entsetzen und tief empfundenem Mitleid.
Entsetzen, weil sich in Ihrer Argumentationslinie Vergleiche und Relativierungen finden, die sich verbieten. Natürlich ist sexualisierte Gewalt kein exklusiv katholisches Problem, aber nirgendwo ist die moralische Fallhöhe größer als in der Institution, die – als einzige – bis heute für sich in Anspruch nimmt, umfassend und normativ das (Sexual-)Leben der Menschen zu bestimmen und zu reglementieren. Zieht diese Institution dann ausgerechnet beim eigenen moralischen Versagen andere gesellschaftliche Bereiche heran, in denen es doch auch nicht anders zugehe, ist der scheinbar neutrale Vergleich nichts anderes als ein ideologisches Manöver zur Selbstentlastung.
Die von Ihnen aufgemachte Kette menschlicher Schuldverstrickung mit Abtreibung und Kindesmissbrauch als vermeintlich gleichartigen Kettengliedern ist nicht nur in der Sache falsch, sondern auch von verstörender Instinktlosigkeit. Sie werden damit der Komplexität und den jeweils eigenen Fragen der Themen Schwangerschaftsabbruch und sexualisierter Gewalt nicht einmal im Ansatz gerecht. Mit der unangemessenen Verkürzung geht das Risiko der Effekthascherei und billigen Polemik einher. Sollte nicht gerade ein Text, der sich so prononciert auf das Zeugnis Jesu beruft wie Ihrer, solch liebloses Reden meiden?
Bei den Inhalten der für die Paderborner Bischofsgruft vorgesehenen Hinweistafeln handelt es sich zudem nicht um vage Annahmen oder einseitige Beschuldigungen durch Betroffene, sondern um Feststellungen aus der diözesanen Aufarbeitung. Sicherlich wäre es von Belang, könnte man die verstorbenen früheren Bischöfe hierzu noch selbst hören. Aber doch gewiss nicht im Sinne eines Plädoyers auf "nicht schuldig" wie vor den Schranken eines weltlichen Strafgerichts, sondern als großes "Confiteor" – als Bekenntnis ihrer Schuld vor "Gott, dem Allmächtigen und euch, Brüder und Schwestern".
In Ihrem Kommentar bringen Sie eine Haltung zum Ausdruck, die unsere Kirche genau dahin geführt hat, wo sie sich aktuell befindet: in eine Existenzkrise mit kaum aufzuhaltenden Auflösungstendenzen. Mein Entsetzen ist umso größer, als Sie mit einer solchen Haltung im Herbst dieses Jahres Teil der Weltsynode sein und dort – anders als beispielsweise die Opfer sexualisierter Gewalt – Sitz und Stimme haben werden. Sie werden an Entscheidungen von wesentlichem Einfluss auf die katholische Kirche weltweit wie auch in Deutschland beteiligt sein. Das lässt meine Hoffnung auf eine Überwindung der Missbrauchskrise und eine synodal geprägte, Gerechtigkeit, Sicherheit und Geborgenheit ausstrahlende Kirche weiter schwinden.
Ich empfinde aber auch tiefes Mitleid - für Sie. Seit 2009 sind Sie Generalsekretärin der Nordischen Bischofskonferenz und damit eingebunden in die vielfältigen Diskussionen um den Missbrauchskomplex, eingebunden aber auch in Machtstrukturen und Hierarchien, die es in jeder Ortskirche und erst recht in der Weltkirche gibt. Wie Sie als Verantwortliche auf einer exponierten Position ohne jede Bezugnahme auf die inzwischen sehr breite analytische Basis zum Missbrauchsgeschehen und zu den Ursachen sexualisierter Gewalt argumentieren, zeigt mir, wie sehr Sie gefangen sein müssen im Machtsystem dieser absolutistisch verfassten Kirche.
Sie offenbaren nicht nur Ignoranz gegenüber der einschlägigen Forschung, sondern auch Mangel an traumasensiblem Umgang mit betroffenen Menschen. Und das löst bei mir tatsächlich Mitleid aus, weil Ihnen dabei offenbar die Fähigkeit, mindestens aber die Freiheit zu offener, unvoreingenommener Wahrnehmung und zu kritischer Selbstreflexion abhandengekommen ist.
Da Sie Ihren Kritikern fehlenden synodalen Geist vorwerfen, will ich Ihnen von mir, meinen Erfahrungen als Missbrauchsopfer erzählen und hoffe, dass Sie aufmerksam-synodal hinhören. Keine Sorge, Sie werden keine Tatbeschreibungen ertragen müssen. Damit will ich Sie nicht belasten. Und das gehört für mich auch nicht hierhin. Ich möchte Ihnen lieber von einer Situation unmittelbar nach dem Tod "meines" Täters berichten, die sehr gut passt zur Diskussion über Hinweistafeln zu Persönlichkeiten der Kirchengeschichte, denen Vertuschung und/oder Strafvereitelung nachgewiesen wurde.
Über 30 Jahre nach seiner Zeit als Kaplan in meiner Heimatpfarrei und damit auch über 30 Jahre nach der an mir begangenen, ungesühnten Sexualstraftat erschien auf der Homepage der Pfarrei ein Nachruf auf den Verstorbenen. Von einem Freund – übrigens in Kenntnis der Missbrauchstaten – verfasst, konnte dieser Text als einzige Lobhudelei gelesen werden. Aber: All das Gute und Herausragende, an das der Nachruf erinnerte, entsprach der Wahrheit, war Teil der Geschichte. Eine Hochphase der kirchlichen Jugendarbeit im Essener Norden; eine bis dahin kaum bekannte, neue Form von Selbständigkeit, Eigenverantwortung und Partizipation an Entscheidungen ehrenamtlich engagierter Jugendlicher und junger Erwachsener; eine Spiritualität in den Jugendgottesdiensten unter der Woche, die uns und auch mich bis heute geprägt hat.
Selbst meine Liebe zur Stadt Rom geht auf diese Zeit und das Engagement dieses Kaplans zurück. Ich hätte den Nachruf mit allem, was darin stand, akzeptieren, ja sogar mittragen und bejahen können, eben weil es auch Teil meiner Geschichte mit dem Verstorbenen war. Wenn denn in diese Eloge mindestens ein Satz eingefügt worden wäre: Wir empfehlen all die Opfer sexualisierter Gewalt, die er in dieser Gemeinde und nahezu an allen seinen Einsatzorten zurückgelassen hat, dem fürbittenden Gebet und der Barmherzigkeit Gottes.
Doch dieser Satz, dieser entscheidende Gedanke fehlte. Und so wurde aus einem wahrhaftigen, würdigenden Blick auf das Ganze eines Lebens ein Lügenbild mit der Verdrängung der Taten und der Entwürdigung der Opfer.
Als der Priester starb, war hinlänglich bekannt, dass es sich um einen Serientäter handelte. Um einen Verbrecher, der mit Wissen der Personalverantwortlichen im Bistum Essen munter versetzt und der Strafverfolgung entzogen worden war, so gut es ging. Wäre zur damaligen Zeit der Opferschutz Handlungsmaxime der Verantwortlichen gewesen, dann wäre mir und meiner Familie viel Leid erspart geblieben. So aber ermöglichte diese Kirche weitere Straftaten, sehenden Auges.
In Ihrem Gastkommentar führen Sie genau dieses Denkmuster weiter: die Zentrierung auf die Täter und die Organisation Kirche. Zur Biografie all der Täter, Vertuscher, Strafvereitler, Leugner und zur Wahrheit unserer Kirche gehört aber eben ihr unsägliches, grausames, menschenverachtendes und gottvergessenes Tun. Das muss benannt werden, auch und gerade dann, wenn sie noch so viel Gutes gewirkt haben sollten. Sie haben Opfer hinterlassen, die für ihr Leben gezeichnet sind. Das nicht unvergessen zu machen, ist der Sinn einer (kirchlichen) Erinnerungskultur, wie sie jetzt in Paderborn beim Umgang mit verstorbenen Altbischöfen praktiziert werden soll: mit Hinweistafeln am herausgehobensten Ort ehrenden Totengedenkens, der Bischofsgruft.
Die Wahrheit sagen, umfassendes Erinnern und Gedenken des Guten wie des Bösen – das wäre doch auch Ihre persönliche Pflicht, insbesondere als exponierte Vertreterin der Täterorganisation Kirche. Kommen Sie dieser Verpflichtung zur Wahrheit nicht nach, setzen Sie das System der Lüge fort und missachten damit Abertausende Opfer sexualisierter Gewalt. Leider geschieht das in Ihrem Gastkommentar mit seinen Schlussfolgerungen, aber auch in Ihren Reaktionen auf erste kritische Stimmen.
Wie auch immer Sie die Zukunft unserer Kirche sehen und an ihrem Bild mitarbeiten: Die hässliche Fratze des Missbrauchs wird zu diesem Bild gehören. Es liegt auch an Ihnen ganz persönlich, durch Wegschauen oder Wegreden die Krise weiter zu verschärfen oder aber den Weg zu bahnen, auf dem die Kirche geläutert und vielleicht auch gestärkt aus der Krise hervorgehen kann.
Sollten Sie all das nicht erkennen und annehmen können, erfüllen Sie mir zumindest eine Bitte: Unterlassen Sie in Zukunft solch empathielose, sinnentleerte Äußerungen wie die in Ihrem Gastkommentar, mit denen Sie Opfer/Betroffene/Überlebende sexualisierter Gewalt erneut der Täter-Opfer-Umkehr und damit der Retraumatisierung aussetzen. Der Generalsekretärin einer Bischofskonferenz sollte so etwas im Jahr 2023 wirklich nicht mehr unterlaufen.
In diesem Sinne!
Ihr
Johannes Norpoth
Über den Autor: Johannes Norpoth, 1967 geboren, ist Diplom-Sozialwissenschaftler. Er ist als Konzerndatenschutzbeauftragter bei einem katholischen Komplexträger tätig. 2020 wurde er als Missbrauchsbetroffener in den Betroffenenbeirat bei der DBK berufen, dessen Sprecher er ist. Norpoth gehört als ständiger Gast der Synodalversammlung des Synodalen Wegs an.