DOMRADIO.DE: Herr Nersinger, wir schauen zurück auf den 19. Juli. An dem Tag vor 80 Jahren, im Jahr 1943, bombardierten alliierte Einheiten die Hauptstadt Italiens.
Bilanz des Angriffs auf die Stadt: San Lorenzo im Osten Roms wurde komplett zerstört. 1500 Tote, 1600 Verletzte. Es gibt eine besondere Verbindung zwischen dem Tag und dem damaligen Papst Pius XII. – was genau ist damals passiert?
Ulrich Nersinger (Vatikanjournalist und Buchautor): Zunächst einmal hat man in Rom nicht damit gerechnet. Man hat gedacht, Rom ist ein Kulturzentrum, das man nicht bombardieren wird.
Dass Rom eine Stadt sei, die im Grunde auch keine Bedeutung hat für einen Angriff. Man hat gedacht, der Papst ist da, auch der neutrale Vatikanstaat liegt ja mitten in Rom. Es wird nichts passieren.
Von daher waren diese vier Angriffswellen auf Rom etwas, was Rom unter Schock gesetzt hat.
Man war zu nichts mehr in der Lage in Rom, außer der Papst. Der Papst hat das gesehen, hat gesehen, dass ein Stadtviertel bombardiert wurde und hat etwas gemacht, was völlig ungewöhnlich war für die damalige Zeit.
Er hat alles Geld, dessen er in wenigen Minuten habhaft werden konnte, gesammelt, und dann hat er angeordnet, dass man ihm ein Auto zur Verfügung stellen möge.
Dann ist er mit diesem Auto und mit einer kleinsten Besetzung in dieses Viertel gefahren. Auch im Vatikan waren alle geschockt.
Die haben gesagt, Sie können doch nicht, Heiliger Vater, Sie können doch nicht ohne Begleitung, ohne Schutz, ohne Nobelgarde, ohne Schweizergarde fahren.
Der Papst hat sich nicht abhalten lassen und ist mit einer kleinen Besetzung, darunter Monsignore Montini, der spätere Papst Paul VI., in dieses bombardierte Viertel gefahren.
DOMRADIO.DE: Wir müssen es noch mal sagen, San Lorenzo ist ein Viertel in der Nähe des Bahnhofs Rom Termini, und liegt somit nicht unmittelbar neben dem Vatikan.
Aber Sie haben es gesagt: Papst Pius XII. hat sich auf den Weg dorthin gemacht. Wie lief dieser Besuch denn damals ab?
Nersinger: Ja, das ist natürlich etwas gewesen, was außergewöhnlich war.
Die Leute waren natürlich verzweifelt, man suchte nach Angehörigen, man versuchte, die Verletzten zu bergen, und dann kommt ein Auto mit vatikanischen Kennzeichen und heraus steigt mit seiner weißen Soutane der Papst.
Für die Leute war das ein angenehmer Schock. Das hat man nicht erwartet. Man muss bedenken, dass sich niemand gezeigt hat, von dem Königshaus niemand gezeigt hat, von der italienischen Regierung.
Und dann kommt der Papst und ist mittendrin. Plötzlich war der Papst wirklich umzingelt von den Leuten. Es war ein Meer von Emotionen.
Die Leute haben geheult, sie haben gerufen, sie haben geklatscht. Für sie war der Besuch des Papstes etwas Außergewöhnliches, auch etwas Tröstendes.
Es gibt Bilder, und es gibt Filmausschnitte von diesem Ereignis, die zeigen, mit welcher Dramatik das geschehen ist und wie man also gerade diesen Besuch des Papstes als etwas empfunden hat, was dann doch in dieser schlimmen Situation Trost gab.
DOMRADIO.DE: Was hatte dieser Besuch für Auswirkungen, wenn es jetzt um das Verhältnis von Römern und dem Papst ging?
Nersinger: Der Besuch hat die Römer noch stärker an den Papst gebunden. Der Papst war ja selber Römer, und das hat die Leute fasziniert.
Man muss sich die Szene vorstellen: Das Auto des Papstes war so belagert, der Papst konnte mit diesem Auto gar nicht mehr in die Vatikanstadt zurückfahren. Das Auto versagte. Die Soutane des Papstes war mit Blut besudelt.
So nah nah kamen die Leute dem Papst. Das hat dazu geführt, dass der Papst gesagt hat: Wenn das noch mal passiert, werde ich wieder draußen sein.
Am 13. August ist es dann wieder passiert, und der Papst war wieder da und unter den Leuten. Das hat natürlich sehr viel Eindruck gemacht.
Und der Papst hatte natürlich auch den Alliierten sagen lassen: Ich gehe jedes Mal raus, wenn so etwas passiert. Auch das hat schon Eindruck gemacht.
Wir haben ja vor Sankt Peter, dem Petersplatz, so einen Platz, der in die Via della Conciliazione führt. Den hat man dann nach Pius XII. benannt und sogar einen Zusatz dazugesetzt.
Man kann das heute noch sehen bei den Straßenschildern, da steht Defensor civitatis, Verteidiger der Stadt.
Also man hat schon gesehen, man hat hier jemanden in Rom, auf den man vertrauen kann. Eigentlich die einzige Autorität, die sich um die Bevölkerung kümmert.
DOMRADIO.DE: Letzten Sonntag hat Papst Franziskus an diese Bombardierung Roms vor 80 Jahren erinnert. Diese Tragödien wiederholten sich heute, sagte Franziskus.
Zudem fragte er: Wie ist das möglich? Haben wir die Erinnerung verloren? Könnte das ein Signal dafür sein, dass Franziskus vorhat, in die Ukraine zu reisen?
Nersinger: Das wäre möglich. Er hat auch genannt, dass Pius XII. dort gewesen ist.
Explizit hatte er auch, denn es läuft ja ein Seligsprechungsprozess für Pius XII., den Titel des Venerabile, des ehrwürdigen Diener Gottes, erwähnt.
Ich könnte mir vorstellen, man weiß es nicht, dass ein Impuls für ihn ist, in naher Zukunft auf die Kriegsgeschehnisse in der Ukraine zu reagieren.
Da wird man darauf warten müssen. Aber ich fand es doch interessant, dass er das so dezidiert gesagt hat beim Angelus.
Das Interview führte Carsten Döpp.