Journalist sieht Wandel in Kirche mit Blick auf Abtreibung

"Differenziertere Sichtweise"

In den neunziger Jahren rang die katholische Kirche in Deutschland um ihre Position zur Abtreibung. Christoph Strack hat den Streit als Journalist beobachtet. Die Kirche habe lernen müssen, die Freiheit der Frau ernst zu nehmen.

Papst Franziskus berührt den Bauch einer schwangeren Frau / © Cristian Gennari/Romano Siciliani/ (KNA)
Papst Franziskus berührt den Bauch einer schwangeren Frau / © Cristian Gennari/Romano Siciliani/ ( KNA )

DOMRADIO.DE: Seinen Ursprung hatte der Ausstieg der katholischen Kirche aus der staatlichen Schwangerschaftskonfliktberatung in einer politischen Auseinandersetzung und Entscheidung, die wiederum mit dem Namen Rita Süssmuth verbunden ist. Welche war das?

Christoph Strack (Redakteur bei der Deutschen Welle und langjähriger Mitarbeiter bei der Katholischen Nachrichtenagentur / KNA): Der Ursprung kam letztlich aus der Wiedervereinigung Deutschlands. Damit war klar, dass in verschiedenen Rechtsfragen Westrecht und Ostrecht zusammengefügt werden müssen.

Christoph Strack / © Christoph Strack (privat)
Christoph Strack / © Christoph Strack ( privat )

Eine anspruchsvolle Aufgabe war dabei die Frage der rechtlichen Regelung der Abtreibung, die in der DDR sehr freizügig gehandhabt wurde und in der Bundesrepublik rechtlich eng begrenzt war. Als es darum ging, eine rechtliche Grundlage zu schaffen, wurde Rita Süssmuth, die damals schon Bundestagspräsidentin war, zu einer derer, die versucht hat, Frauen aus unterschiedlichen Lagern, aus verschiedenen Fraktionen zusammenzufügen und gerade innerhalb der Unionsseite betont für die Sichtweise von Frauen zu werben und nicht an Frauen vorbei eine rechtliche Grundlage zu erlassen.

Sie hat sich dabei später selbst als katholische Feministin bezeichnet. Aber es war das Ansinnen, einerseits die Perspektiven von West und Ost zusammenzufügen, andererseits durchaus aber auch die Perspektive des Lebensschutzes dabei zu haben.

Rita Süssmuth war auch von katholischen Vorgaben geprägt. Aber zugleich ging es ihr darum, einen Konsens, einen Kompromiss zu schaffen, mit dem alle leben können, mit dem alle Seiten einzubinden sind und der auch rechtlich vor dem Bundesverfassungsgericht Bestand hat.

Das war ja ein Kompromiss, der dann mit zwei Anläufen entstanden ist. 1992 gab es eine rechtliche Regelung vom Bundestag. Nach Vorgaben, die aber seitens des Bundesverfassungsgerichts begrenzt waren, gab es dann 1995 einen zweiten Anlauf. Das ist im Grunde das bis heute geltende Recht des Paragraphen 218 StGB.

DOMRADIO.DE: Rita Süssmuth ist damals bei der CDU-Bundestagsfraktion und auch bei Kanzler Helmut Kohl auf Widerstand gestoßen. Wie reagierte damals die katholische Kirche in Deutschland darauf?

Rita Süssmuth (dpa)
Rita Süssmuth / ( dpa )

Christoph Strack

"Rita Süssmuth war schnell das rote Tuch."

Strack: Rita Süssmuth war schnell das rote Tuch. Sie war jemand, die von konservativen und reaktionären Kräften angegangen wurde. Aber andererseits war sie für viele derer, die zum Beispiel beim Katholischen Frauenbund, bei der Katholischen Frauengemeinschaft Deutschlands oder in Caritas-Kreisen tätig waren, auch ganz schnell so was wie das andere Gesicht von der CDU. Ein Gesicht, was explizit auch mal die Frauenperspektive eingebunden hat.

Bis dahin gab es von CDU-Seite niemanden, der als Frau so einen Posten wie das Bundestagspräsidium übernehmen konnte. Sie hat zum ersten Mal in dieser Wucht ein weibliches Gesicht von christdemokratischer Politik verkörpert. Deswegen war sie eine Reizfigur.

Man darf das alles nicht mit heute vergleichen. Man konnte auch Anfang der neunziger Jahre Rita Süssmuth samstags in Bonn auf dem Markt beim Einkaufen treffen. Das wäre heute unmöglich, wenn man weiß, wie gereizt heute politische Debatten sind.

Aber es gab damals viele Äußerungen, die sicherlich auch für Rita Süssmuth hart waren. Es gab viele Gespräche oder viele Momente, wo sich Bundeskanzler Kohl damals gefragt hat, welche Frau er da in die Politik eingebunden hat.

Rita Süssmuth war jemand, die nach 1990, nach der Wiedervereinigung mit dieser Prägung das Gesicht der CDU verändert hat und bis heute eine Katholikin ist, die Politik mitgestaltet hat.

DOMRADIO.DE: Es hat noch bis 1999 gedauert, bis die katholische Kirche sich damit auseinandergesetzt hat, ob sie in dieser staatlichen Schwangerenkonfliktberatung verbleiben soll oder nicht. Wie ist es dazu gekommen?

Strack: 1999 ist der Streit eskaliert, der aber schon seit Anfang der neunziger Jahre parallel zur staatlichen Gesetzgebung immer da war. Während der staatlichen Gesetzgebung gab es bei den Anhörungen im Bundestag auch kirchliche Sachverständige und kirchliche Äußerungen während der Entscheidungen des Bundestages.

Es gab auch Abgeordnete verschiedener Fraktionen, die mit dem damaligen Leiter des Katholischen Büros, Prälat Paul Bocklet, aus Seelennöten heraus Gespräche geführt haben. Das ist klar. Aber die kirchliche Entwicklung lief schon 1993 an, als Erzbischof Johannes Dyba als erster Bischof überhaupt gesagt hat, dass er aus einer Schwangerenberatung aussteigt, bei der dieser Schein ausgestellt wird und er mit diesem Stempel rechtlich eingebunden ist.

Johannes Dyba, damals Bischof von Fulda, am 23. Februar 1999 in Fulda / © Wolfgang Radtke (KNA)
Johannes Dyba, damals Bischof von Fulda, am 23. Februar 1999 in Fulda / © Wolfgang Radtke ( KNA )

Christoph Strack

"Dyba hat 1993 sehr klar, sehr transparent gesagt: Ich bin weg."

Dyba hat 1993 sehr klar, sehr transparent gesagt: Ich bin weg. Aber die anderen deutschen Diözesen waren komplett in diesem System. Es gab von Rom aber einen wachsenden Druck, der zuerst nur durch Vorgaben und Bitten geäußert wurde, dass sie sich nicht an diesem System beteiligen mögen.

Erst 1998 wurde das durch einen Brief von Papst Johannes Paul II. schärfer, indem er den deutschen Bischöfen dies als als klare, verpflichtende Vorgabe geschrieben hat. Es gab dann ein Ringen, in welchem Rahmen man dabei sein könne und wie viel Spielraum einem der Papst noch lasse. Es war im Übrigen auch nicht nur Johannes Paul II. als Papst, von dem der Druck kam, sondern auch von Joseph Ratzinger, der damals Präfekt der Glaubenskongregation war und von Kardinal Sodano im Vatikan. Es war schon Druck, der von verschiedenen Seiten aufgebaut wurde.

Kardinal Lehmann mit dem Plakat der Informationskampagne Wir helfen und beraten weiter - Die Schwangerschaftsberatung der katholischen Kirche im November 2000 / © Ditsch (KNA)
Kardinal Lehmann mit dem Plakat der Informationskampagne Wir helfen und beraten weiter - Die Schwangerschaftsberatung der katholischen Kirche im November 2000 / © Ditsch ( KNA )

Es eskalierte dann von 1998 bis 1999, manchmal über Wochen, über Tage, dann klang es wieder etwas ab. Aber es war vermutlich das Thema, was die katholische Kirche in diesen Monaten damals medial ständig in die Schlagzeilen gebracht hat, weil es auch so ein Hin und Her war, in einem Tempo, das heute noch einmal viel zügiger wäre.

Damals wurde etwas nicht in Gleichzeitigkeit per Mail übermittelt und man hatte eine Stunde später die Antwort. Häufig lief es nicht ganz transparent und häufig wurden Briefe auch über Bande gespielt, wurde Einfluss genommen, wurde abgewartet, gab es keine Gesprächsmöglichkeit mit dem Vatikan.

Manchmal ist es vielleicht vergleichbar zu dem, was heute das ZdK erfährt, wenn es einfach um die Frage der Gesprächsmöglichkeit mit dem Vatikan geht. Da gibt es Leute, die eher Drähte haben, und andere, die weniger Drähte haben.

Und es gab, was bis dahin unvorstellbar war, Sitzungen des Ständigen Rats, bei denen zum Beispiel die Reaktion auf das Papstschreiben 1998 beraten wurde.

Christoph Strack

"Man merkte, wie die gesamte Gesellschaft gespannt darauf schaute, ob die katholische Kirche es irgendwie in den Griff bekommt, sich mit mit einer Gegenwärtigkeit von politischem Geschehen zu arrangieren."

Da standen in Himmelspforten bei Würzburg, am Tagungsort des Rates, plötzlich 50 Journalisten und Kamerateams vor der Tür und filmten wegfahrende Autos von Bischöfen, von denen fast niemand nur kurz anhielt und Kardinal Lehmann beim Rausfahren vielleicht einen Satz gesagt hat.

Man merkte, wie die gesamte Gesellschaft gespannt darauf schaute, ob die katholische Kirche es irgendwie in den Griff bekommt, sich mit mit einer Gegenwärtigkeit von politischem Geschehen zu arrangieren.

DOMRADIO.DE: Was hat schlussendlich dazu geführt, dass die Deutsche Bischofskonferenz gesagt, dass sie komplett aus der staatlichen Schwangerschaftskonfliktberatung aussteigt?

Strack: Der entscheidende Schritt war tatsächlich die Vorgabe des Papstes: Ihr müsst aus diesem System aussteigen. Punkt. Es war kein Wunsch des Heiligen Vaters mehr, sondern es war eine verpflichtende Vorgabe des Papstes nach mehrjährigem Tauziehen darum, ob man durch sprachliche Hülsen irgendwie einen Weg wahren kann.

Joachim Kardinal Meisner / © KNA (KNA)
Joachim Kardinal Meisner / © KNA ( KNA )

Diese verbindliche Vorgabe des Papstes war sicherlich auch durch die gute Vernetzung des Kölner Kardinals beeinflusst worden. Kardinal Joachim Meisner hat da sicherlich seine Einflussmöglichkeiten genutzt. Aber als diese Erwartung einmal klar war, versuchte die Bischofskonferenz zu sagen, dass sie die Menschen nicht im Stich lasse, dass sie die Frauen nicht im Stich lasse und dass sie weiter darauf setze, ihre Hilfsangebote öffentlich zu machen und diese zu erweitern; aber auch, dass sie diesen Schein nicht mehr ausfülle.

Als dieser Schritt seitens der Bischöfe klar war, sind führende Laien, die aber schon in den Jahren davor immer so ein bisschen den Lehmann-Kurs gepusht haben, rausgegangen und haben den Verein "donum vitae" gegründet, mit dem künftig eine Schwangerschaftskonfliktberatung angeboten wurde, an deren Ende eine Frau einen Beratungsschein bekam.

Die entscheidende Pressekonferenz zur Gründung war in Fulda im Grunde 500 Schritte von der gleichzeitig tagenden Vollversammlung der Bischofskonferenz entfernt. Man merkte genau, dass die Bischöfe einen Pflock setzen und sagen, dass sie diesen Weg nicht mehr mitgehen und aus diesem staatlichen Beratungssystem aussteigen.

Gleichzeitig sagte die Laieninitiative, dass sie es weiterhin anbietet, um Frauen nicht allein zu lassen. Darin lag die Hoffnung gegründet, dass man auch Frauen erreicht, die zwar eigentlich zum Beratungsgespräch kommen und entschieden sind und nur noch diesen Schein wollen, aber dass man doch auch Frauen bewegen kann, von einem Schwangerschaftsabbruch Abstand zu nehmen.

Das war der Punkt zwischen 1998 und 1999, wo es rasch kippte und "donum vitae" als Initiative, die bis heute engagiert ist, entstand.

DOMRADIO.DE: Was hat sich in den letzten 25 bis 30 Jahren in der katholischen Kirche getan, was die Positionierung zum Schwangerschaftsabbruch anbelangt?

Strack: Geändert hat sich, dass es ein Tauziehen darum gibt, dass diese männlich dominierte Kirche sich damit arrangieren muss, die Freiheit der Frau ernst zu nehmen und zugleich für diesen Lebensschutz einzutreten.

Die Frage ist ja, ob man mehr erreicht, wenn man so sehr den Schutz des ungeborenen Lebens betont, der ja verpflichtend ist, der auch das Ansehen von Johannes Paul II. prägte oder ob es einem wert ist die Frauen zu verletzen, die vielleicht schon ratlos, schutzlos, hilfesuchend sind. Das ist ja im Grunde das Dilemma, das immer damit verbunden ist.

Papst Franziskus / © Vatican Media/Romano Siciliani (KNA)
Papst Franziskus / © Vatican Media/Romano Siciliani ( KNA )

Diese differenziertere Sichtweise ist vielleicht heute im kirchlichen Milieu verbreiteter. Wenn man heute manche Äußerungen von Papst Franziskus hört, kann man ahnen, dass er sicherlich nie die Striktheit an Vorgaben formuliert hätte wie sein heiliger Vorgänger Johannes Paul II. Denn Papst Franziskus sagt ständig: Wir müssen den Verletzten hinterhergehen. Wir sind für das Feldlazarett aller zuständig.

Da wird einfach deutlich: Lasst niemanden allein, der irgendwie in einer verzweifelten Situation ist, der Hilfe braucht, der sein Leben oder ähnliches wahren muss. Dieses Bewusstsein ist sicherlich innerhalb der katholischen Kirche oder bei katholischen Gläubigen gewachsen.

Das Interview führte Jan Hendrik Stens.

donum vitae

Der Verein Donum Vitae (Geschenk des Lebens) wurde 1999 von katholischen Laien gegründet im Zuge des Ausstiegs der katholischen deutschen Bischöfe aus dem gesetzlichen System der Schwangerenkonfliktberatung mit Ausstellung des Beratungsscheins. Er wählt bei der Beratung von Schwangeren in Konfliktsituationen einen Weg, den der Vatikan ablehnt: Die Mitarbeiter geben nach der Beratung auf Wunsch den vom Gesetzgeber geforderten Schein aus. Dieser eröffnet den Zugang zu einer straffreien Abtreibung.

Szene aus einem Imagefilm von Donum Vitae in Bayern / ©  Bewegter Blick (KNA)
Szene aus einem Imagefilm von Donum Vitae in Bayern / © Bewegter Blick ( KNA )
Quelle:
DR