DOMRADIO.DE: Seit der Jahrtausendwende war die Anzahl der Abtreibungen in den meisten Jahren gesunken. Wie erklären Sie sich denn jetzt diese Trendumkehr seit dem vergangenen Jahr?
Mechthild Heil (Bundesvorsitzende der Katholischen Frauengemeinschaft Deutschland, kfd): Das wäre Spekulation. Ich kann mir das nicht erklären. Ich hoffe, dass wir dazu Erkenntnisse aus der sogenannten ELSA-Studie bekommen, die im Frühjahr 2024 das Licht der Öffentlichkeit erblicken soll. Dann wissen wir vielleicht mehr.
Andererseits glaube ich, dass die Gründe für Schwangerschaftsabbrüche heute dieselben sind, wie sie in der Vergangenheit waren. Es liegt wahrscheinlich viel an biografischen Gründen, an Partnerschaftsproblemen, aber auch an äußerem Druck, Überforderung oder vielleicht sogar materiellen Sorgen. Zusammengenommen ein Befund, der nicht schön ist.
DOMRADIO.DE: Medizinische Gründe oder ein Abbruch aufgrund eines Sexualdeliktes machten nur 4 % der Schwangerschaftsabbrüche aus. Gibt es in unserer Gesellschaft zu wenig Unterstützung für eine Schwangerschaft?
Heil: Es hat fast den Anschein. Wenn die Zahlen steigen, muss es einen Grund geben. Bei so viel Aufklärung bei all den Möglichkeiten der Verhütung für Mann und Frau verstehe ich nicht, dass es zu so vielen Schwangerschaftsabbrüchen und ungewollten Schwangerschaften kommen kann. Dort muss nach den eigentlichen Problemen gesucht werden.
Denn es wäre ein Armutszeugnis, wenn die steigende Zahl der Schwangerschaftsabbrüche an äußerem Druck, Überforderung und materiellen Sorgen lägen. Als reicher Staat, als westliche Gesellschaft müssen wir doch etwas dagegen tun können.
DOMRADIO.DE: Die Diskussion um Abtreibung wird in Deutschland in der Politik wie auch in der Gesellschaft zunehmend hitziger geführt. Wie kann es zu einer vermehrten Versachlichung kommen?
Heil: Wir sehen, dass es weltweit - in Europa, in Amerika und anderen Ländern - wieder einen neuen Kulturkampf um die Frage der Schwangerschaftsabbrüche gibt. Wahrscheinlich liegen wir im selben Trend wie alle anderen Länder. Aber ich verstehe nicht, dass die Gräben so tief geworden sind und warum wir diese Diskussion wieder aufgemacht haben.
Mit den Paragrafen 218 und 219 hatten wir die Gesellschaft befriedet. Es war kein Thema mehr. Warum es jetzt wieder Thema ist, darüber ließe sich wirklich trefflich diskutieren. Dass das Thema wieder auf der Tagesordnung ist, tut mir leid. Es tut mir weh, weil es der Gesellschaft als Ganzes schadet.
DOMRADIO.DE: Früher waren es Kardinal Meisner aus Köln oder Erzbischof Dyba aus Fulda, die gegen Abtreibungen zu Felde zogen. Vor einem Jahr forderte ZdK-Präsidentin Irme Stetter-Karp, dass Abtreibung flächendeckend ermöglicht werden soll. Damit sorgte sie zwar auch für Widerspruch, aber gibt es einen Wandel bei der Position der katholischen Kirche zu diesem Thema?
Heil: Das glaube ich schon, zumindest im Kirchenvolk. Unter Bischöfen und Priester weniger und den Papst komplett ausgenommen. Wir Christen sehen den Konflikt in der Abwägung des Lebens, das in der Frau wächst, und dem Selbstbestimmungsrecht der Frau, in der das Leben wächst. Die Frage ist, wer entscheidet nachher?
Bei uns ist das klar geregelt. Auf der einen Seite haben wir das Selbstbestimmungsrecht der Frau. Auf der anderen Seite den Staat, der dafür da ist, das Leben des ungeborenen Kindes zu schützen. Genau das leistet dieser fein ausziselierte Prozess der Paragrafen 218 und 219, der bei uns Gesetz ist.
Mit diesem Kompromiss - und das habe ich eben schon gesagt - waren die Leute zufrieden und glücklich. Natürlich hatte dies Auswirkungen auf die Erwartungen an die Kirche. Nämlich, dass unsere katholische Kirche das Selbstbestimmungsrecht einer Frau akzeptiert. So kam die neue Diskussion in die Kirche.
DOMRADIO.DE: Jetzt haben Sie mehrfach die Paragrafen 218 und 219 erwähnt. Es gibt in der Politik Bestrebungen, diese Paragrafen ersatzlos zu streichen. Sie sind einerseits Politikerin, andererseits auch Bundesvorsitzende der kfd. Wie positionieren Sie sich zu dieser Debatte?
Heil: Wir werden sehen, mit welchen sinnvollen Gründen die Streichung von Paragraf 218 vorgebracht wird. Das ist keine Sache der Emotion, sondern ein Thema, das mehrfach vom Bundesverfassungsgericht beurteilt worden ist. In dieses Konstrukt einzugreifen, wird nicht einfach sein, damit die Änderung rechtssicher bleibt und das Bundesverfassungsgericht nicht alles wieder einkassiert. Noch gibt es keine Linie der Ampel-Regierung zu diesem Vorhaben. Wir kennen noch kein Argument. Das wird noch eine muntere Diskussion, auch wegen der rechtlichen Begründung.
DOMRADIO.DE: Am Samstag findet in Berlin und Köln parallel der "Marsch für das Leben" statt. Papst Franziskus unterstützt diese Bewegung, die in vielen Ländern stattfindet. In Deutschland gibt es jedoch viel Kritik an der Demonstration wegen einer möglichen Instrumentalisierung durch rechte Gruppen und Politiker. In Köln zum Beispiel ist die CDU über die Frage der Position zu diesem "Marsch für das Leben" gespalten. Wie positioniert sich die Katholische Frauengemeinschaft Deutschlands?
Heil: Eins ist klar: Jede Frau kann selbst entscheiden, ob sie bei dem Marsch für das Leben mitgeht oder nicht. Wir müssen da keine Empfehlung abgeben. Als Bundesverband geben wir die auch nicht ab. Wir raten aber auch davon ab, solche Aktionen zu starten, weil es nicht zur Diskussion beiträgt und nicht hilfreich ist, die verschiedenen Lager zu befrieden.
Besser wäre, man würde sich zusammensetzen, aufeinander hören und verstehen, warum Frauen in solche Konfliktsituationen kommen; verstehen, warum Frauen sich für ihr Leben entschieden haben, anstatt für das Leben des Kindes. Es gibt so viel, was zu besprechen wäre und das keine Demonstration auf der Straße leisten kann. Deswegen rufen wir nicht dazu auf.
Das Interview führte Jan Hendrik Stens.