Der bis heute populäre Gründerbischof des Bistums Essen hatte sich über drei Jahrzehnte vor allem als Anwalt der Bergleute im Ruhrgebiet profiliert. Das Bistum Essen machte die Anschuldigungen am Dienstag öffentlich und rief mögliche weitere Betroffene auf, sich zu melden.
Der jüngste Vorwurf wurde nach Angaben des Bistums im Oktober 2022 erhoben. Zwei weitere Anschuldigungen stammen bereits aus dem Jahr 2011. Zur Art der vorgeworfenen Übergriffe machte das Bistum keine Angaben und verwies zur Begründung auf den Schutz der Persönlichkeitsrechte der Betroffenen.
Erster deutscher Kardinal unter Missbrauchsverdacht
Hengsbach ist der erste deutsche Kardinal, der unter Missbrauchsverdacht steht. Vorwürfe richten sich noch gegen zwei weitere deutsche Bischöfe: gegen den aus dem Erzbistum Freiburg stammenden früheren Auslandsbischof Emil Stehle (1926-2017) und den ehemaligen Hildesheimer Bischof Heinrich Maria Janssen (1907-1988).
Hengsbach baute als erster Bischof das 1958 gegründete Bistum Essen auf, das aus Teilen der Diözesen Köln, Münster und Paderborn entstand. Er leitete es 33 Jahre lang bis 1991. Zuvor war er Weihbischof in Paderborn. Bei den vielen Zechenschließungen machte sich der kirchenpolitisch konservative Kirchenmann zum Anwalt der Bergleute; Management und Politik drängte er zu sozialen Ausgleichsmaßnahmen. Hengsbach war auch 17 Jahre Militärbischof und begründete das katholische Lateinamerika-Hilfswerk Adveniat.
Der im vergangenen Herbst den unabhängigen Ansprechpersonen des Bistums Essen gemeldete Vorwurf beziehe sich auf das Jahr 1967, so das Bistum. In der Folge habe der aktuelle Essener Bischof Franz-Josef Overbeck weitere Nachforschungen veranlasst - auch in Hengsbachs Heimatbistum Paderborn.
Bei der Sichtung des Paderborner Aktenbestands sei der Essener Interventionsstab auf einen Vermerk gestoßen. Danach wurde Hengsbach 2011 beschuldigt, bereits 1954 in seiner Zeit als Weihbischof eine minderjährige Jugendliche sexuell missbraucht zu haben. Dieser Fall sei vom Vatikan damals als nicht plausibel eingestuft worden.
Beschuldigungen wurden 2011 anders bewertet
Im Zuge der jüngsten Nachforschungen sei der Vorwurf noch einmal geprüft und als glaubwürdig bewertet worden, teilte das Erzbistum Paderborn ebenfalls am Dienstag mit. Eine Frau habe angegeben, dass sie 1954 als 16-Jährige von Franz Hengsbach gemeinsam mit dessen Bruder Paul sexuell missbraucht worden sei. Der 2018 verstorbene Bruder, der auch Priester des Erzbistums war, habe die Vorwürfe aber vehement bestritten.
Die Beschuldigungen wurden 2011 laut Erzbistum aufgrund der Gesamtumstände damals als nicht plausibel bewertet. Diese Einschätzung müsse aber aus heutiger Perspektive und nach erneuter Prüfung des Personalaktenbestands von Paul Hengsbach "leider deutlich in Frage gestellt werden". Denn den Akten zufolge habe bereits 2010 eine weitere Frau Missbrauchsvorwürfe gegen ihn erhoben. Zwar sei auch dieser Fall als nicht greifbar eingestuft und Rom nicht vorgelegt worden, hieß es weiter. Doch habe die Betroffene nach einer Beschwerde und nach erneuter Prüfung ihres Falls 2019 Zahlungen der Kirche in Anerkennung des Leids erhalten.
Der dritte, ebenfalls 2011 erhobene Vorwurf sei 2014 auf Initiative der betroffenen Person hin zurückgezogen worden, so das Bistum Essen weiter. Sie habe mitgeteilt, dass die Schilderungen aufgrund verschwommener Erinnerungen falsch gewesen seien. Damit sei der Fall als abgeschlossen betrachtet worden.
Erzbistum Paderborn zeigt sich selbstkritisch
In Anbetracht des neuen Vorwurfs aus dem vergangenen Jahr und unter Berücksichtigung aller Kenntnisse habe er sich jetzt dazu entschieden, alle Vorwürfe gegen Hengsbach öffentlich zu machen, erklärte Overbeck am Dienstag. Dabei sei ihm bewusst, was dies bei vielen Menschen auslösen werde, die Hengsbach als geschätzten Gründerbischof des Ruhrbistums in Erinnerung haben: "Angesichts der vorliegenden Beschuldigungen ist es mir wichtig, mögliche weitere Betroffene zu ermutigen, sich zu melden."
Das Erzbistum Paderborn zeigte sich selbstkritisch: "Wären die beiden Paul Hengsbach betreffenden Beschuldigungen seinerzeit miteinander verknüpft betrachtet worden, hätte dies möglicherweise zu einer anderen Bewertung der Vorwürfe im Sinne der beiden betroffenen Frauen geführt", heißt es in der Erklärung: "So liegt es aus heutiger Sicht nahe, dass den Frauen nicht nur Unrecht durch die Missbrauchserfahrung durch Diözesanpriester des Erzbistums, sondern auch Leid durch den Umgang mit ihnen und ihren berechtigten Anliegen widerfahren ist."
Information der Redaktion: Dieser Artikel wurde am 19.09.2023 um 13.24 Uhr aktualisiert.