DOMRADIO.DE: Ihre Dissertation trug den Titel "Walt Disney ist ein Gott". Wieso war Walt Disney Ihrer Meinung nach ein Gott?
Dr. Johannes Ketzer (Religionspädagoge und Disney-Kenner): Genau das ist das Schöne an dem Titel, denn der erste Satz in meiner Einleitung lautet: "Natürlich ist Walt Disney kein Gott.“ Er ist tot. Aber der Titel "Walt Disney ist ein Gott", hat mir einfach so gut gefallen. Er ist nicht von mir.
Ich habe 2002, bevor mein Buch fertig war, mein Auto zum "Autometzger" gebracht. Diesen Begriff gibt es in Deutschland so nicht. Der Autometzger heißt in Österreich wirklich so und übernimmt alte Autos, um sie auszubeinen und vielleicht ihre Einzelteile weiterzuverkaufen. Das Auto, das ich damals hatte, mein erstes, hatte überhaupt ausgeschaut wie ein Auto aus einem klassischen Disney-Film. Jedenfalls fuhr ich dann, nachdem ich es beim Autometzger abgegeben hatte, von Vösendorf aus mit der Badner Bahn, wie sie heißt, nach Wien zurück, um das neue Auto anzumelden.
Da sitze ich plötzlich vis-á-vis vor einer Zeitung, in der steht: Walt Disney ist ein Gott. Ich schaute noch zweimal hin, aber es stand wirklich da. Es war eine kleine Schlagzeile des Kuriers vom 29. Januar 2002. Der ursprüngliche Autor des Worts war John Lasseter gewesen, der damals die "Monster AG" als computeranimierten Film auf die Leinwand gebracht hatte. Den Titel habe ich dann einfach übernommen, weil er mir gefallen hat.
DOMRADIO.DE: Welche Film-Klassiker aus dem Hause Disney stehen denn besonders in Bezug zum Glauben oder auch fürs Christentum?
Ketzer: Ja, explizit ist das natürlich schwer zu beantworten. Ich stelle eine Gegenfrage: Kennen Sie Peter Alexander? Das erscheint zuerst wie eine blöde Frage. Aber wissen Sie, auf Grundlage seiner Auftritte, seiner Schallplatten, seiner Filme, seiner Shows, ob Peter Alexander gläubig oder religiös war?
Ist das Thema dort je explizit vorgekommen? Nein. Aber man weiß es inzwischen. Nach seinem Tod hat man seinen Nachlass zum Teil neu sortiert und herausgefunden, dass er jahrelang mit hohen Beträgen die Caritas, und somit insbesondere für Jugendliche, die es im Leben schwer haben, unterstützt hatte –Steigbügel hieß dieses Programm.
Bei Disney ist es so wie bei den Brüdern Grimm. Sind die christlich? Ja, sie lebten im Deutschland des 19. Jahrhundert. Die konnten gar nicht aus dem Christentum herauskommen, würde ich sagen. Sie lebten in einer mindestens christlichen Kultur.
Ich bin 63 Jahre alt und war wahrscheinlich vor 60 Jahren das erste Mal im Kino, damals noch zu "Merlin und Mim". Seitdem habe ich mir jeden neuen Disney-Film angeschaut, bis dann nur mehr die computeranimierten Filme herauskamen, die mir nicht mehr gefallen haben.
Als ich dann den "König der Löwen" zum ersten Mal sah, dachte ich mir: Um Gottes Willen, was ist das eigentlich? Zu dem Zeitpunkt hatte ich mich noch nicht so sehr mit impliziter Religion beschäftigt.
Aber mir war sofort aufgefallen, dass hier ungeheuer intensiv mit religiösen Bildern gearbeitet wurde. Das und natürlich noch viel mehr habe ich in meiner Dissertation eben auch herausgearbeitet.
Nehmen wir nur Pinocchio, wo die Grille Jiminy das Gewissen des Protagonisten darstellt. Das Gewissen und die Seele waren im Sinne von Augustinus und Sokrates sicherlich keine Grille. Aber die Idee des Gewissens ist auf jeden Fall mit dem Christentum verbunden, selbst wenn sie der griechischen Philosophie entnommen ist.
Oder schauen wir auf den "Skeleton Dance". Der Totentanz von Disney steht eigentlich in einer langen europäischen Tradition solcher Totentänze. Und letztlich gehen die Totentänze auf Paulus zurück. Man macht sich über den Tod lustig: Wo ist dein Stachel?
Das ist mehr oder minder das Bibelzitat, das hier umgesetzt wird. Wie explizit das ist? Ja, das ist eine schwierige Frage, weil in den wissenschaftlichen und journalistischen Biografien nicht so viel über diese implizite Religiosität steht.
DOMRADIO.DE: Welche Werte und moralischen Überzeugungen kann man denn in den Filmen Walt Disneys identifizieren? Wie hängen die mit seinem Glauben zusammen?
Ketzer: Ich hatte es damals aus meinem Buch wieder herausgenommen, dass der Vater von Walt Disney einst Dean, also Diakon, war in einer kongregationalistischen Gemeinde. Im Internet findet man mehr dazu, aber das ist so ausgeschmückt, dass es möglicherweise schon legendär ist.
Kongregationalistische Werte haben mit den Puritanern, also mit der calvinistischen Variante des Christentums zu tun: arbeiten, hart arbeiten und Erfolg haben. Dass diese Variante des Christentums im Werk Walt Disneys hervortritt, glaube ich schon.
Ich denke da vor allem an meinen Lieblingsfilm "Die drei kleinen Schweinchen", bei dem es auch explizit christlich werden kann.
Ich unterrichte den Film gerne, denn er dauert nur eine Viertelstunde und danach kann man ihn besprechen und zum Beispiel darüber reden, aus welcher Zeit der Film stammt – über den Bankenkrach von 1929 und, dass dann 1933 in der Folge in Deutschland die Nationalsozialisten an die Macht gekommen sind und dann einige Jahre später auch in Österreich.
Dieser Börsenkrach hatte viele Menschen um ihre Existenz gebracht hat und in den USA wurde er nachdem der Film rausgekommen war, bildhaft mit dem "Big Bad Wolf" in Verbindung gebracht. Denn diese drei kleinen Schweinchen waren Teil der sogenannten "Silly Symphonies", kurze, musikalisch begleitete Vorfilme ohne Text, die in der Regel vor abendfüllenden Spielfilmen aufgeführt wurden.
Die Geschichte der drei kleinen Schweinchen ist schnell erzählt: Das erste Schweinchen baut sich ein Haus aus Stroh, das zweite eines aus Holz und das dritte eines aus Stein. Und dann kommt die Frage: "Who is afraid of the Big Bad Wolf?" Ich habe mal gelesen, das sei in dieser Zeit die Hymne der "Depression Era" gewesen. Roosevelt sagte einst: "We have nothing to fear, but fear itself." Die Leute sollen sich sozusagen selber aus dem Schlamassel herausziehen, um wieder zu einer gewissem Sicherheit zu kommen wie die drei kleinen Schweinchen.
Normalerweise habe ich ganze Klassen im Ersatzunterricht, die haben natürlich nicht alle Religionsunterricht und verstehen den Film trotzdem. Aber ab und an ist es vorgekommen, dass jemand bei den drei kleinen Schweinchen auf die Bergpredigt gekommen ist, also ein Schüler, ohne dass ich es gesagt habe, vom Haus auf dem Felsen gesprochen hat. Das wäre zumindest eine explizit religiöse Verwendung dieses Films.
DOMRADIO.DE: Walt Disney ist ja schon einige Jahrzehnte tot. Was meinen Sie, wie würden die Filme aussehen, würde er heute noch Regie führen können?
Ketzer: Ja, das ist eine ganz, ganz schlimme Frage, denn ich nehme mal an, dass Walt Disney, genauso wie ich, in dieser seiner Ästhetik zu Hause war. Und ich habe große Probleme einen Film zu finden, der mir gefällt.
Ins Kino gehen ist für mich derzeit eher wenig erfreulich. Es kommt selten vor, dass ich einen Film zu sehen bekomme. den ich zumindest nicht als schlecht bezeichne. Aber vielleicht gibt's auch zu viele Filme und man muss die Perlen wirklich suchen.
Ich denke, dass Disney am Grundprinzip seiner Filme nichts verändern würde, denn das Grundprinzip jedes Hollywood-Films, und daher auch jedes Disney-Films, ist – ich habe das bei dem Autoren Georg Seeßlen so schön formuliert gefunden – im Grunde die Passionsgeschichte.
Denn in einem klassischen Unterhaltungsfilm muss es am Ende ein Happy End geben. Es muss am Ende gut ausgehen. Aber ein Happy End wäre fad ohne Katastrophe. Ich sage es jetzt in Christensprache: Ohne Karfreitag ist der Ostersonntag langweilig. Und Georg Seeßlen meint: Dieses Prinzip, diese letztlich christliche Kultur ist selbst in einer nicht mehr sehr christlichen Welt so stark verankert, dass unsere Kultur immer noch nach diesem christlichen Schema abläuft.
DOMRADIO.DE: Blicken wir noch einmal ganz aktuell nach Rom. Dort sitzen ja gerade Bischöfe, Laien und der Papst zusammen und diskutieren bei der Weltsynode.
Was glauben Sie würde passieren, wenn Walt Disney da jetzt herein marschieren würde und beispielsweise sagen würde: Ich haue hier auf den Tisch und ihr einigt euch jetzt mal auf ein Ordinat der Frauen. Würden die darauf eingehen, wenn so ein Visionär wie Walt Disney sagt: Ich habe so viel geschafft in meinem Leben und ihr schafft das auch?
Ketzer: Na ja, die Kritiker von Walt Disney würden sagen, dass er doch eher auf der Seite der Konservativen war. Was den König der Löwen betrifft, habe ich eine Unzahl von Kritiken gelesen, von positiven wie negativen. Das Familienbild, das Staats- und Demokratieverständnis, das da zum Ausdruck kommt, geht eher in Richtung Kaiser Franz Joseph, der liebe Kaiser, samt bösen Gegenspieler, der aber, wie es sich gehört, am Ende dann zum Zwecke des Happy Ends von der Bühne zu verschwinden hat.
Aber das ist eine schöne Frage. Ich glaube, dass Disney eher für die Monarchen einen Film machen würde. Denken wir nur an die Prinzessinnen-Filme: Es kommen in der Regel Monarchen vor, aber auch Prinzessinnen, die vorher keine Prinzessinnen gewesen sind.
Ein Straßenjunge, der erst Priester und dann Papst wird – das wäre was für Disney, aber Demokratie oder gar Partizipation? Walt Disney ist, wenn ich mich nicht irre, während der Arbeiten am Dschungelbuch gestorben und auch die Angestellten haben sich dann immer die Frage gestellt: Wie hätte es Walt gemacht?
Walt Disney hätte einen Film über das Thema Kirche wahrscheinlich sehr schön inszeniert, auf einer hübschen Außenseite. Walt Disney hätte in Köln eine leichte Entzauberung des Zeremonials für ein Hochamt durchgeführt, aber er hätte das Prinzip des Hochamt nicht angetastet.
Das Interview führte Oliver Kelch.