DOMRADIO.DE: Aktuell gibt es eine große Zurückhaltung in der Öffentlichkeit, sich zum Krieg im Nahen Osten zu positionieren, weil die Situation sehr aufgeladen ist. Weshalb haben Sie aber genau das mit einem Video gemacht?
Dr. Johannes Hartl (Theologe, Philosoph und Gründer des ökumenischen Gebetshauses in Augsburg): Das ist ein Thema, an dem sich ganz viele andere Themen kristallisieren. Zum Beispiel auch, als was wir als Gesellschaft überhaupt gesehen werden wollen und wofür wir stehen.
Ich glaube, das ist kein Thema, wo man einfach nur mit Neutralität darüber hinweggehen kann. Vielmehr muss Unrecht auch als Unrecht beim Namen genannt werden.
DOMRADIO.DE: Sie nehmen eine solidarische Haltung zu Israel ein, was aber nicht gleichzeitig heißt, dass Sie einfach blind alles gutheißen und verteidigen. Sie versuchen zu erklären und ordnen ein. So auch die komplizierte politische Lage. Warum, denken Sie, hat es dann aber trotzdem dann vor allem so einen heftigen antisemitischen Widerspruch auf Ihr Video gegeben, dass Sie die Kommentarfunktion blockieren mussten?
Hartl: Ich muss zur Kenntnis nehmen, dass antiisraelische und antijüdische Ressentiments in unserer Gesellschaft weit verbreitet sind. Ich muss auch zur Kenntnis nehmen, dass ein Großteil dieser Reaktionen von Menschen aus dem migrantischen Milieu kamen und offensichtlich da tiefsitzender Antisemitismus, auch eine ganz verzerrte Wahrnehmung, weit verbreitet ist.
Aber wir müssen auch gar nicht so weit schauen. Allein solche Sätze wie "da sind ja überall die Zionisten und die haben denen nur das Land geraubt" sind Narrative, die es in Köpfen vieler Menschen gibt. Wir sehen leider auch in Reaktionen mancher großer Nachrichtensendungen, dass auch hier oft schon eine false balance (falsche Ausgewogenheit; Anm. d. Red.) erstellt wird.
Auf T-Online las ich beispielsweise gestern, nach dem "Angriff" der Hamas auf Israel greife Israel nun auch Gaza an. Aber das war kein Angriff der Hamas, das ist kein militärischer Akt, sondern das war ein terroristisches Massaker. Aber wir haben uns an solche falschen Narrative meines Erachtens einseitig gewöhnt.
DOMRADIO.DE: Ist das denn ein Versagen der deutschen Gesellschaft, dass es zu solchen Ausbrüchen in einem Land wie Deutschland kommen kann, wenn wir seit Jahrzehnten hinter dem Staat Israel stehen?
Hartl: Ohne Zweifel. Und das sind dann auch reine Lippenbekenntnisse. De facto können sich Juden und Jüdinnen nicht mehr gefahrlos in Deutschland bewegen. Synagogen müssen geschützt werden. Dass das ein paar Jahrzehnte nach dem Dritten Reich in Deutschland wieder so ist, ist ein Skandal.
Diesen Skandal kann man auch mit einem Hinweis "aber Netanjahu handelt auch falsch" oder "die Juden haben auch Fehler gemacht" nicht wegwischen. Das war nicht das Thema. Das ist ein tiefsitzender Antisemitismus, den es in Deutschland schon gab und der sich im Zuge der Migration noch verschärft hat.
DOMRADIO.DE: Unabhängig davon, wer für diese Situation verantwortlich ist, denn Leid existiert auf beiden Seiten und das gerade in einem Land, das den Menschen heilig sein sollte. Warum lässt Gott so etwas zu?
Hartl: Die Christen vor Ort, die überwiegend arabische Christen sind, leiden sowohl unter dem islamistischen Terror als auch unter den oft als oppressiv wahrgenommenen Aktionen Israels. Das betrifft auch palästinensische Christen. Ich denke an Orte wie Bethlehem, wo Jesus geboren wurde und Nazareth, die unsere Solidarität verdienen.
Als Christ glaube ich, dass Antisemitismus, also die Empörung ob der Tatsache, dass es da ein Volk geben soll, das heilsgeschichtlich auf besondere Weise von Gott erwählt wurde, letztendlich geistlicher Ursache ist.
DOMRADIO.DE: Sie gehen sogar einen Schritt weiter und sagen, Antisemitismus sei etwas Dämonisches, eine Bezeichnung, die in unserer heutigen Gesellschaft ein bisschen merkwürdig klingt.
Hartl: Wenn man das Böse studiert, merkt man, dass das Böse eine Macht über Menschen gewinnen kann, die irrational wird. Das kann man katholischerseits oder im Literalsinn als dämonisch bezeichnen. Man kann es auch metaphorisch verstehen. Das ist mir jetzt an dieser Stelle egal. Aber es gibt Mächte des Bösen, die verblenden und die Menschen in Lügengebäude einhüllen.
Wenn wir die Schoah, wenn wir den Holocaust, das industrielle Morden von über fünf Millionen Juden betrachten, oder auch wenn man sieht, was die Hamas-Leute getan haben, die ganze Familien zu Tode gefoltert haben, dann genügt es nicht zu sagen, die Leute hatten eine schwere Kindheit oder das psychologisch zu erklären.
Denn dann kommt man zu Folgendem: Es gibt Mächte des Bösen, die Menschen wirklich zu Dingen treiben, die zutiefst unmenschlich sind. Davon spricht dieses Bild des Teuflischen oder des Dämonischen.
DOMRADIO.DE: Was bringt Ihnen als Christ da Hoffnung? Gibt es da irgendwas, auf das wir hoffen können, dass das irgendwie gut ausgeht?
Hartl: Grundsätzlich kenne ich Christen auf beiden Seiten. Ich kenne arabische Christen und ich kenne auch Israelis, die Christen sind, die wirklich Versöhnungsarbeit in Israel leisten. Ich glaube, dass ein Konflikt wie dieser letztendlich nur durch Umkehr, Buße, Vergebung und Gebet gelöst werden kann. So ähnlich wie die polnischen und die deutschen Bischöfe in den 50er und 60er Jahren einen Weg der Versöhnung unter der Überschrift gingen: Wir vergeben und bitten um Vergebung.
Wir als Christen sollten dafür immer beten, ohne einseitige Parteinahme oder ohne einseitig zu nivellieren. Man kann nicht einfach alles gleichsetzen. Es ist ein Angriff der Hamas. Die Hamas ist eine ideologische islamistische Gruppe, der es nicht nur darum geht, Frieden im Westjordanland zu bekommen, sondern die Juden töten möchte.
Gegen das gilt es, auch geistlich einen Stand einzunehmen. Aber Versöhnung und Frieden kommen letztendlich von Gott her. Dafür kann man nur beten.
Das Interview führte Renardo Schlegelmilch.