DOMRADIO.DE: Für Sie hängen die diplomatischen Anstrengungen von Papst Franziskus sehr stark mit dem Denken von Johannes XXIII. zusammen. Inwiefern?
Prof. Dr. Markus Krienke (Philosoph und Sozialethiker in Lugano und Mailand): Wenn wir vor allem auf die Enzyklika "Pacem in terris" schauen, auf die wir dieses Jahr zu sprechen kommen, weil sie sich zum 60. Mal jährt, dann haben wir da deutliche Schritte der Entwicklung des sozialen Denkens der Kirche. Sie richtet sich an alle Menschen guten Willens, also sie versucht, alle Menschen zu umspannen. Sie versucht, eine Ethik vorzustellen, in der sich alle wiederfinden können und in der auch politische Grenzen überwunden werden können.
Papst Johannes XXIII. versuchte, diese Grenzenlosigkeit der neuen Solidarität über den Begriff des Rechts auszudrücken. Die Kirche erkennt ja in dieser Enzyklika zum ersten Mal offiziell die Menschenrechte an, und Recht hat ja viel mit Gerechtigkeit zu tun, vor allem, wenn wir über Menschenrechte reden.
Papst Franziskus sagt, wenn wir über das Problem Krieg und Frieden sprechen, sollen wir doch eher den Akzent auf den gerechten Frieden legen als auf den gerechten Krieg. Das ist kein Wortspiel, sondern eigentlich uralte kirchliche Überlieferung. Die Gerechtigkeit ist der Weg des Friedens.
Diese Inspiration kommt ja letztlich von Johannes XXIII., von dieser Enzyklika her. Papst Franziskus versucht auch, diesem Gerechtigkeitsbegriff eine neue Dimension zu geben, stärker auf interreligiösen Dialog zu gehen, eine Geschwisterlichkeit, die vor allem ein Vorschlag der Religionen selbst ist. Darin geht er natürlich dann über Johannes XXIII. hinaus.
DOMRADIO.DE: Jetzt gibt es allerdings auch Kritik, Papst Franziskus beziehe nicht klar Stellung, zum Beispiel im Ukraine-Krieg oder auch im Nahost-Krieg zwischen Israel und der Hamas. Kann man sagen, dem Papst fällt am Ende vielleicht seine Diplomatie doch auf die Füße?
Krienke: Das ist natürlich eine berechtigte und kritische Frage, die auch viel gestellt wird. Man muss zuerst einmal bedenken, dass päpstliche Diplomatie sich generell in Konfliktfällen nicht politisch auf eine Seite schlägt. Das ist alte Tradition kirchlicher Diplomatie; nicht, um einen Vorwand zu geben, dass einige sich vielleicht doch auf die "falsche" Seite stellen könnten, sondern um die eigene Verkündigung nicht zu gefährden.
Die eigene Verkündigung ist ja nun einmal keine Verkündigung, die auf der politischen Schiene fährt, sondern sie ist eine andere Schiene. Es ist ja eine ethische, es ist ja eine völkerverständigende Schiene. Da ist doch dann sehr deutlich zu sehen, wie Papst Franziskus selbst auch andere Worte wählt, eine andere Sprache wählt, einen völlig anderen Zugang wählt. Ich sage es noch einmal: Es ist kein politischer Zugang.
Aus dem Grund versucht die Kirche natürlich, da eine gewisse Deutlichkeit und eine gewisse Form von Diplomatie einzubringen, die Staaten oder auch politische Positionen so nicht ausdrücken können. Wenn man das bedenkt, dann kann man doch sehen, dass Papst Franziskus deutliche Versuche unternimmt, dem Frieden selbst Möglichkeiten zu geben.
Hinter den Kulissen ist natürlich auch die päpstliche Diplomatie wesentlich stärker aktiv, als es vielleicht manchmal vor den Kulissen scheint. Wir sind ja im diplomatischen Bereich, und im diplomatischen Bereich kann man nicht gut alles bei Tageslicht oder in der publizistischen Öffentlichkeit verhandeln.
DOMRADIO.DE: Aber meinen Sie, Diplomatie könnte bei der Hamas weiterhelfen?
Krienke: Das ist eine andere Frage. Wir kamen natürlich sehr vom Ukraine- und Russland-Konflikt her. Bei der Hamas kommt die Diplomatie natürlich stark an ihre Grenze. Was aber beim Hamas- und Israel-Konflikt die große Schwierigkeit ist, es ist nicht einfach ein Konflikt, der auf eine Terrororganisation beschränkt ist. Auch da sind viele Weltmächte involviert.
Das Problem bei den derzeitigen Konflikten ist ja, wie Papst Franziskus deutlich sagt, dass es ein dritter Weltkrieg in Stücken ist. Und diese Stücke setzen sich ja zurzeit bedrohlich zusammen. Papst Franziskus sieht natürlich hinter den vordergründigen Akteuren dieses Konflikts auch andere, größere geopolitische Probleme. Nicht umsonst hat er ja vor einigen Tagen auch mit dem Präsidenten Irans telefoniert und versucht, auf dieser doch eher weltpolitischen Schiene auf die Konflikte einzugehen.
Dass er in keiner Weise die Anschläge der Hamas gutheißt, dass er in keiner Weise eine Terrororganisation gutheißt, dass er in keiner Weise Gewalt gutheißt, wie sie natürlich auch völkerrechtswidrig im Russland-Ukraine-Konflikt geschehen ist, das ist völlig klar.
DOMRADIO.DE: Sie sehen auch eine Verbindung zwischen den moralischen, sozialen, politischen und wirtschaftlichen Krisen unserer Zeit. Und da könnte man auch auf diese Art und Weise das Agieren von Papst Franziskus verstehen. Wo besteht da der Zusammenhang?
Krienke: Wenn man den Horizont noch weiterspannt, das Moralische, das Ökonomische, das Soziale mit reinnimmt, da wird dann doch der Begriff der Brüderlichkeit, der Geschwisterlichkeit von Papst Franziskus relevant. Geschwisterlichkeit heißt, dass man insgesamt weltweit eine sozialethische Situation schafft, in der Begegnung von Völkern, Begegnung auf politischer, wirtschaftlicher Ebene unter dem Zeichen der Verständigung, der Solidarität, der Inklusivität geschieht.
Dort kommen dann doch auch deutlich Seiten zum Schwingen, die integrierend wirken, nicht ausschließend. Die Idee von Papst Franziskus, dass Ethik integrativ sein muss, dass Ethik nur dann gerecht ist, wenn man eine Situation schafft, die alles, was ausschließt, alles, was draußen lässt, alles, was Menschen oder auch Völker abwertet, nicht beachtet, weglässt, dann schafft man insgesamt eine Situation, in der Frieden eher gedeihen kann.
Papst Franziskus sieht nicht, dass man Frieden mit Waffen herstellt oder auch politisch direkt herstellen könnte. Was heißt denn Frieden herstellen? Wenn man da politisch oder auch konflikttheoretisch herangeht, dann schafft man dadurch öfters eine Situation, die dann nur Ausgangspunkt für kommende oder zukünftige Konflikte und Kriegssituationen sein kann.
Es geht ihm darum, insgesamt eine Situation zu schaffen, die deswegen auch ökonomische und soziale Aspekte einschließt, weil nur durch ökonomische, soziale Gerechtigkeit eine Situation geschaffen werden kann, die Konflikte in Zukunft abweist. Da kommt natürlich auch die umweltethische Schiene stark mit rein.
DOMRADIO.DE: "Diese Wirtschaft tötet", schreibt Papst Franziskus in "Evangelii Gaudium". Doch für seine bisweilen doch stark antikapitalistischen Töne bekommt der Papst aus Argentinien Gegenwind auch von Vertretern aus Deutschland, die der katholischen Soziallehre nahestehen. Wer braucht denn von beiden Seiten in Sachen Soziales mehr Nachhilfe?
Krienke: Das Schöne bei der Sozialethik ist, dass man auf diese Frage mit "beiderseits" antworten kann. Denn die Sozialethik ist die Disziplin in der Kirche, in der die Kirche auch von Sozialwissenschaften selbst lernt, um dieses Lernen dann mit den eigenen ethischen und moralischen Vorstellungen in Synthese zu bringen. Von daher ist die Aussage "Diese Wirtschaft tötet" ein bisschen genauer zu analysieren.
Auf der einen Seite kann man sagen, er meint "DIESE Wirtschaft tötet". Was heißt denn DIESE? Er meint nicht die Wirtschaft als solche oder die kapitalistische Wirtschaft als solche, aber eine bestimmte Ausprägung kapitalistischen Wirtschaftens. In dieser Weise kann man Papst Franziskus durchaus als kompatibel mit unseren Wirtschaftsvorstellungen, was zum Beispiel soziale Marktwirtschaft angeht, interpretieren.
Er bringt eine starke ethische Note rein. Aber diese ethische Note hat ja auch in der katholischen Lesart sozialer Marktwirtschaft eine große Tradition. Von daher könnte man auf der einen Seite durchaus sagen, dass Papst Franziskus es vermeiden will, dass Vorstellungen von sozialer Marktwirtschaft in rein kapitalistische Marktwirtschaft abdriften und die inklusiven Aspekte dieses Wirtschaftens dann dadurch verlorengehen.
Auf der anderen Seite kann man sagen und muss dann natürlich auch herausstellen, dass Papst Franziskus aus seiner eigenen Tradition heraus eine Art Wirtschaftens und eine Art Kapitalismus kennengelernt hat, die auch Aspekte beinhaltet, die seiner Ansicht nach und auch zurecht menschenverachtend sein können. Also stark exklusiv sein können, die auch eine starke Brutalität bestimmten Wirtschaftens einschließt.
Hingegen hat er bestimmte Wirtschaftsformen, wie wir sie in Europa herausgebildet haben und was dann auch in Europa ein großer Friedensfaktor war – soziale Marktwirtschaft ist ja auch ein politisches Friedensmodell –, diese Art von Wirtschaft hat der Papst nicht kennengelernt.
Von daher kann ich auch gut verstehen, dass viele Wirtschaftsvertreter – gerade auch aus Deutschland – damit mit Franziskus nicht mitgehen können und da bestimmte Härten und bestimmte Verständnisschwierigkeiten bei Papst Franziskus selbst sehen.
DOMRADIO.DE: Kann der Papst, der Vatikan, können wir als Kirche überhaupt etwas ausrichten, was zur Beendigung von Kriegen oder auch von sozialer Ungerechtigkeit beiträgt? Schwindet da nicht unser Einfluss als Kirche spürbar angesichts der Krise, in der wir stecken?
Krienke: Die Kirchenkrise ist natürlich ein großes Thema. Die Kirche hat eine Glaubwürdigkeitskrise, was den Okzident angeht. Die Kirche hat eine große moralische Autorität, was internationale Dimensionen angeht. Gerade da haben wir ja im Papst eine Figur, die als Papst und als Symbol moralischer internationaler Werte in den letzten Jahrzehnten ja sogar stark gewonnen hat.
Seit Johannes XXIII., könnte man sagen, hat sich das Papsttum stark internationalisiert. Der Papst ist ja immer mehr als eine internationale Figur und auch Garant für eine bestimmte friedensethische Position wahrgenommen worden. Von daher ist die Position von Papst Franziskus, was die Bemühung um Frieden angeht, nicht geschwächt. Johannes Paul II. hat ja gerade, was bestimmte Widerstände angeht, auch internationale amerikanische Kriege zu rechtfertigen, da der Kirche auch nochmal einen großen Vertrauensschub im positiven Sinn gegeben.
Was natürlich das Problem darstellt, ist generell eine kirchlich moralische Autorität. Was kann sie anrichten, wenn es politisch konkret zu Kriegen kommt? Eine moralische Autorität kann viel dazu beitragen, eine Situation aufrechtzuerhalten, die Kriege vermeidet. Wenn einmal der Krieg losgegangen ist, dann ist ja jede Moral und jede Religion leider schon eigentlich per se im Hintertreffen.
Man muss sagen, dass Papst Franziskus derzeit alles dafür tut und alle Möglichkeiten auszuschöpfen sucht, die eine kirchlich moralische Position in so einer Situation dann auch haben kann.
Das Interview führte Jan Hendrik Stens.
Hinweis: Prof. Dr. Markus Krienke ist einer der Referenten beim Studientag im Bistum Augsburg "Papst Franziskus. 10 Jahre sanfte Reform im Vertrauen auf Nähe, Mitgefühl und Zärtlichkeit“. Dieser findet am Freitag, den 10. November, im Akademischen Forum der Diözese Augsburg statt.