missio blickt mit Sorge auf weltweit größte Wahlen in Indien

"Nicht mehr frei und demokratisch"

Bei den Parlamentswahlen dürften wieder die Hindu-Nationalisten der BJP siegen. Warum das Hilfswerk missio den säkularen Staat und die Rechte religiöser Minderheiten bedroht sieht, erklärt Indien-Referentin Bettina Leibfritz.

Eine Frau bereitet sich auf die Stimmabgabe während des ersten Wahlgangs der indischen Parlamentswahlen in Neemrana im indischen Bundesstaat Rajasthan vor / © Manish Swarup (dpa)
Eine Frau bereitet sich auf die Stimmabgabe während des ersten Wahlgangs der indischen Parlamentswahlen in Neemrana im indischen Bundesstaat Rajasthan vor / © Manish Swarup ( dpa )

DOMRADIO.DE: Indiens Premierminister Narendra Modi hat im Wahlkampf auf seine Erfolge verwiesen, etwa auf das weltweit größte Ernährungsprogramm für arme Menschen. Was sagen Ihre Partner vor Ort dazu?

Bettina Leibfritz (privat)
Bettina Leibfritz / ( privat )

Bettina Leibfritz (Indien-Referentin des internationalen katholischen Missionswerkes missio): Modi hat sicherlich viel in die Wege geleitet, zum Beispiel kostenlose Schulspeisungen. Dennoch ist Indien auf dem Welthungerindex weiter abgerutscht, die Lage wird jetzt als ernst eingestuft; die am stärksten vom Hunger betroffene Bevölkerungsgruppe ist die der Kinder unter fünf Jahren. Ihre Situation bleibt kritisch. 

Insgesamt leben auch heute noch circa ein Drittel aller Menschen, die weltweit von Hunger und Armut betroffen sind, in Indien. 

DOMRADIO.DE: Zehn Jahre lang war Modi an der Macht. Wie hat sich während seiner Regierungszeit die Kluft zwischen Arm und Reich verändert? Ist sie kleiner geworden? 

Leibfritz: Nein, auf keinen Fall. Indien war sehr schwer von Corona betroffen. Während der Pandemie sind sehr viele Menschen gestorben. Der große Lockdown hat sehr viele arme Menschen in Bedrängnis gebracht, besonders die Wanderarbeiter. Die Kluft zwischen Arm und Reich hat sich spätestens seit der Corona-Pandemie vergrößert. 

DOMRADIO.DE: Wie real sehen Sie die Gefahr, dass Modi und seine Partei nach einem Wahlsieg den Hinduismus in Richtung einer Staatsreligion rücken könnten?

Narendra Modi bei der Einweihung des Rama-Heiligtums / © Pib /Press Information (dpa)
Narendra Modi bei der Einweihung des Rama-Heiligtums / © Pib /Press Information ( dpa )

Leibfritz: Das ist eine sehr reale Gefahr, denn das ist die erklärte Agenda des Hindutva. Der ist nicht mit dem Hinduismus gleichzusetzen, sondern verkörpert eine politische Ideologie mit Elementen des Hinduismus. Modi selbst hängt dieser Ideologie an; er ist in der RSS groß geworden, einer paramilitärischen, radikal-hinduistischen Bewegung, die hinter seiner Partei BJP steht.

Modi ist seit seinem achten Lebensjahr Mitglied der RSS, die ihn auch zum politischen Führer aufgebaut hat. Die RSS ist in den letzten Jahren immer stärker geworden und auch für die Gewalttaten mitverantwortlich, die in Indien im Namen des Hindutums begangen werden.  

DOMRADIO.DE: Religiöse Minderheiten hatten es unter Modi schwer; besonders gegen Muslime ist er harsch vorgegangen.

Leibfritz: Muslime sind keine kleine Minderheit im Land, sondern Indien hat mit über 200 Millionen Menschen weltweit sogar die zweitgrößte Anzahl an Muslimen überhaupt. Diese vielen Menschen werden zunehmend als Bürger zweiter Klasse behandelt, als Abkömmlinge der Eroberer. Die muslimische Mogul-Herrschaft in Indien, die über Jahrhunderte angedauert hat, soll nichtig gemacht werden. Muslime haben einfach keinen guten Stand in Indien. 

Bettina Leibfritz

"Massive Angriffe auf christliche Einrichtungen haben zugenommen."

DOMRADIO.DE: Wie steht es um das Verhältnis von Modi zu den Christen bestellt? 

Leibfritz: Christen sind eine viel kleinere Minderheit und machen gerade einmal zwei Prozent der indischen Bevölkerung aus. Aber die Ursprünge des Christentums in Indien sind sehr alt und reichen mindestens bis ins dritte Jahrhundert zurück, wenn nicht noch weiter.

Aber auch hier lautet die Erzählung, die Christen seien letztlich fremd, das Christentum sei als fremde Religion von Kolonialherren ins Land gebracht worden. Und weil das Christentum also keine genuin indische Religion sei, sollten Christen auch nicht so viel zu sagen haben. Massive Angriffe auf christliche Einrichtungen haben zugenommen.

Heute gibt es solche Übergriffe auch im Süden, wo die christliche Bevölkerung größer ist. Auch dort werden heute christliche Einrichtungen attackiert, vor allem Schulen. Und es gibt Vandalismus an religiösen Gebäuden und Statuen. Christen, vor allem auch Priester und Ordensleute, landen im Gefängnis, weil sie irgendwas gesagt haben, das angeblich nicht regierungskonform oder hindukonform ist. 

Christin in Indien / © Harald Oppitz (KNA)
Christin in Indien / © Harald Oppitz ( KNA )

DOMRADIO.DE: missio unterstützt deshalb in Indien eine ganze Reihe von Projekten zur Religionsfreiheit. Wie sehen die zum Beispiel aus? 

Leibfritz: Das interessanteste Projekt dazu fördern wir in Nordindien. Da geht es vor allem um friedliches Zusammenleben zwischen Hindus und Muslimen an Orten, die in der Vergangenheit von kommunaler Gewalt betroffen waren. In anderen Projekten werden Christen unterstützt, die von Pogromen betroffen waren, beispielsweise im Bundesstaat Manipur, in dem es aktuell einen großen, religiös aufgeladenen Konflikt gibt. Überall unterstützen wir Partner, die sich für Menschenrechte und auch für einen säkularen Staat einsetzen. 

DOMRADIO.DE: missio bedauert, dass die Bundesregierung im Verhältnis zu Indien zu wenig auf die Expertise der Kirchen zurückgreift. Woran machen Sie das fest? 

Bettina Leibfritz

"Wir haben ja hier in Deutschland unsere eigene Geschichte mit Ideologien."

Leibfritz: Ich denke, dass die Bundesregierung klar wirtschaftliche Interessen in den Mittelpunkt stellt und die Situation der Menschenrechte eher hinter verschlossenen Türen anspricht. Ich hoffe, dass sie zumindest das tut. Ich glaube durchaus, dass der Bundesregierung bewusst ist, was in Indien wirklich passiert.

Wir haben ja hier in Deutschland unsere eigene Geschichte mit Ideologien; und ich glaube es ist sehr klar, dass die Hindutva-Ideologie gefährlich ist. Natürlich sind auch wirtschaftliche Interessen legitim, allerdings machen ausländische Investitionen keinen Sinn, wenn ein Staat sich zunehmend von seiner säkularen und demokratischen Verfassung verabschiedet, sich in Richtung hinduistischer Gottesstaat entwickelt. 

DOMRADIO.DE: Was sind angesichts der Wahlen Ihre Forderungen an die Bundesregierung? 

Leibfritz: Dass sie immer wieder die Situation der Religionsfreiheit thematisiert, die Situation der Muslime und gerade auch der muslimischen Flüchtlinge, die keinen guten Status in Indien haben. Auch die Situation in Manipur sollte sie immer wieder ansprechen, auch wenn Modi das nicht gern hört.

Generell sollten deutsche Politikerinnen und Politiker immer wieder unsere säkularen Werte ins Spiel bringen; denn das macht doch letztlich auch unsere Weltgemeinschaft aus, dass wir uns über gemeinsame Werte verständigen. 

Kinder und Jugendliche in Indien / © Neeraz Chaturvedi (shutterstock)
Kinder und Jugendliche in Indien / © Neeraz Chaturvedi ( shutterstock )

DOMRADIO.DE: Was denken Sie, wie wird die Wahl ausgehen? 

Leibfritz: Ich befürchte das Schlimmste. Modi tut alles dafür zu gewinnen. Das geht soweit, dass führende Oppositionspolitiker aktuell im Gefängnis sitzen, damit sie nicht weiter agieren können oder dass Konten der konkurrierenden Kongresspartei eingefroren wurden. Ich hoffe noch immer, dass so etwas auf Widerstand stößt und vielleicht die Wählerinnen und Wähler mobilisiert, andere Parteien zu wählen.

Aber Modi hat einen unheimlich großen Fan-Kreis von Menschen, die ihn vergöttern und verehren, egal was er tut. Ich befürchte, dass der Ausgang der Wahl keine gute Entwicklung für Indien bringt. 

DOMRADIO.DE: Tatsächlich ist in den Medien immer wieder die Rede von den größten demokratischen Wahlen der Welt. Sind die Wahlen in Ihren Augen tatsächlich noch demokratisch?  

Leibfritz: Wenn diese aktuellen Wahlen in Indien frei und demokratisch genannt werden, würde ich schon ein Fragezeichen dahinter machen. Wenn die wichtigsten Oppositionspolitiker im Wahlkampf verhaftet und Konten eingefroren werden, sind das für mich sind keine fairen Wahlen mehr. Schon jetzt nicht mehr. 

Das Interview führte Hilde Regeniter.

Katholische Kirche in Indien

Unter den rund 1,38 Milliarden Indern sind die Katholiken mit etwa 18 Millionen nur eine kleine Minderheit. Im Verhältnis zu ihrem Bevölkerungsanteil von unter zwei Prozent ist ihr Einfluss im Land jedoch viel größer. Die Kirche stellt ein Fünftel der schulischen Leistungen, dazu ein Viertel aller Unterstützungsprogramme für Witwen und Waisen und knapp ein Drittel der Versorgung von Lepra- und Aidskranken. Indien ist auch das Land mit den meisten Priesterberufungen weltweit.

Christen in Indien  / © Jaipal Singh (dpa)
Christen in Indien / © Jaipal Singh ( dpa )
Quelle:
DR