DOMRADIO.DE: Welche Bedeutung hat Venedig für die Päpste und die römische Kirche?
Prof. Dr. Dr. Jörg Bölling (Institut für Katholische Theologie der Universität Hildesheim): Venedig hat den heiligen Markus, so wie Rom den heiligen Petrus hat. Die Stadt hat sich vor allem in ihrer politischen Blütezeit in einer Weise mit dem Evangelisten Markus geradezu identifiziert, wie das in vergleichbarer Form bei nur sehr, sehr wenigen anderen Städten der Fall ist, vielleicht sogar noch mehr als bei der Stadt Rom.
Petrus steht letztlich für die Kirche insgesamt. Der Evangelist Markus steht doch sehr deutlich – auch wenn es anderswo Markus-Traditionen gibt, die ihn für sich dann auch jeweils vor Ort reklamieren – für die Stadt Venedig. Da merkt man schon, dass es einerseits eine große Nähe durch die gemeinsame Heiligenverehrung gibt, aber genau dadurch andererseits auch eine Trennlinie, nämlich die Markus-Liturgie auf der einen und die petrinische Tradition auf der anderen Seite.
DOMRADIO.DE: Bis 1797 war Venedig Hauptstadt der gleichnamigen Republik und galt bis ins späte Mittelalter hinein als eine der bedeutendsten Handelsstädte. Welche Auswirkung hat diese Bedeutung auf das kirchliche und kulturelle Leben der Stadt?
Bölling: Das sieht man der Stadt, die ja heute von Millionen von Touristinnen und Touristen in der Tradition der frühneuzeitlichen Kavalierstouren und Bildungsbürgerreisen des 19. und 20. Jahrhunderts regelmäßig besucht wird, auf Schritt und Tritt an. Die herrschaftlichen Paläste sind das eine. Aber insbesondere die prächtigen Kirchen mit ihren phantastischen Fassaden bezaubern und fesseln noch heute diejenigen, die sie in Augenschein nehmen dürfen.
Genau daran sieht man schon, wie viel Reichtum bestand, der durch den Handel über die damals meist eingehaltenen Grenzen hinaus in der Levante, zwischen Ost und West, erwirtschaftet wurde. Vor der Entdeckung Amerikas spielte Venedig da eine ganz große Rolle, vielleicht in Deutschland vergleichbar mit Lübeck, das dann ebenfalls an Bedeutung verloren hat. Aber dadurch ist auch eine bestimmte Art von Kunst und Kultur noch heute sichtbar, die sonst durch die Industrialisierung verdrängt worden wäre.
Hier zeigt sich eine gewisse Wechselwirkung zwischen Rom und Venedig. Denn als im 15. Jahrhundert auf einmal der vorher in Rom tätige Architekt Sansovino in Venedig aktiv wurde, vor allem am Markusplatz, galt das durchaus auch als Zeichen der Anerkennung der Päpste und entsprach dem Wunsch, Römisches in Venedig vor Ort zu sehen. Umgekehrt war dann dieser neue Renaissancestil etwas, das in Venedig im 16. Jahrhundert durch Palladio und dann im ganzen Veneto in den Palladio-Villen seinen venezianischen Ausdruck fand.
Später hat dieser Stil in der englischen Architektur von Villen bis hin zur amerikanischen Begeisterung, wenn man etwa an das Weiße Haus denkt, seine ganz eigene Ausprägung und variantenreiche Nachahmung gefunden. So wurden letztlich auch zwischen dem Nebeneinander und Miteinander, vielleicht auch durch die Konkurrenz, die bestand, wieder Wechselwirkungen möglich.
DOMRADIO.DE: Neben der Architektur spielte wohl auch die Musik in Venedig eine ganz wichtige Rolle.
Bölling: Venezianische Musik spielt eine ganz große Rolle für die gesamte Musikgeschichte. Die Mehrchörigkeit war zwar im ganzen Norden Italiens verbreitet. Aber in Venedig standen gerade in der Kapelle des Dogen (der Doge war das auf Lebenszeit gewählte Staatsoberhaupt der Republik Venedig; Anm. d. Red.), die ursprünglich gar nicht die Kathedrale war, verschiedene räumliche Strukturen zur Verfügung, die diese Aufstellung verschiedener Chöre an verschiedenen Orten überhaupt erst ermöglichte.
Der schon erwähnte aus Rom kommende Architekt Sansovino ließ weitere Tribünen hinzufügen, von denen dann zusätzliche Ensembles musizieren konnten. Daraus hat sich letztlich das barocke Concerto-Prinzip entwickelt. Es ist jedenfalls eine der Grundlagen – neben der Monodie, bei der eine Einzelstimme besonders zählt –, dass verschiedene Chöre von verschiedenen Orten aus gemeinsam singen.
Hinzu kamen unterschiedliche Besetzungen, die im Wechsel miteinander musizierten, also Solisten- gegen Ensembleklang des Tutti, Streicher im Wechsel mit Bläsern. Später hat man dann darauf verzichtet, die räumliche Trennung vorzunehmen und hat die musikalische Färbung über die Besetzung, Klangfarben und dergleichen vorgenommen. Venedig spielt also in der Musikgeschichte eine zentrale Rolle.
Das hat man dann wiederum umgekehrt in Rom im frühen 17. Jahrhundert aufgegriffen, wo die Mehrchörigkeit etwa im Petersdom auch zu einer gewissen Vollendung geführt worden ist. Da gibt es ja auch verschiedene Balustraden, unterschiedliche Möglichkeiten der Aufstellung, die ursprünglich zur Repräsentation von Reliquien gedacht waren und später dann anderweitig genutzt wurden, durchaus auch in Nachahmung dieser venezianischen Mehrchörigkeit.
DOMRADIO.DE: Der Erzbischof von Venedig trägt den Titel Patriarch, obwohl Venedig nicht zu den altkirchlichen Patriarchaten zählt. Woher stammt denn dieser Ehrentitel?
Bölling: Der Ehrentitel stammt nicht aus dem Osten, sondern aus dem ostkirchlich geprägten Süden, nämlich aus Alexandria. Im Jahre 828 wurden die Reliquien des heiligen Markus von dort in die Lagune nach Venedig übertragen, um es höflich zu formulieren. Manche sprechen in dem Kontext auch von einem eiskalten Raub. Die Begründung für die Übertragung war, dass unter den veränderten religiösen Verhältnissen die Verehrung dieser Reliquien nicht mehr dauerhaft gewährleistet sei.
Einer Legende nach soll man dann die leiblichen Überreste dieses Heiligen sogar mit Schweinefleisch überdeckt haben, um die muslimischen Kontrolleure davon Abstand nehmen zu lassen, weitere Kontrollen durchzuführen. Dadurch sind die Reliquien 828 nach Venedig gekommen. Seit dieser Zeit existiert auch die Legende, dass schon dem heiligen Markus auf einer seiner Fahrten, bei der er dann in der Lagune gestrandet sei, durch ein geflügeltes Wesen, das sich später als Markuslöwe entpuppte, geweissagt worden sei, hier werde einst sein Leib ruhen.
Dadurch war dann die Legitimation gegeben, wenn ihm das schon im Traum so geweissagt worden sei, dann müssten die Reliquien ja hier liegen, zumal er im nahegelegenen Aquileia im Auftrag des heiligen Petrus gewirkt und einen Bischofssitz gegründet habe.
Nun ist aber in Aquileia das Problem gewesen, dass dort der Patriarchensitz 568 durch die Langobarden erobert worden ist. Die gehörten nun nicht der römisch-katholischen Kirche an, sondern besaßen die arianische Sonderauffassung, dass Jesus letztlich Teil der Schöpfung sei, seine Göttlichkeit somit allenfalls auf Wesensähnlichkeit mit Gott, nicht aber auf seiner Gottwesensgleichheit beruhe.
So ist der katholische Patriarch dann nach Grado ausgewandert. Von dort ist er dann erst 1451 nach Venedig übergesiedelt. Seinen Sitz hatte er aber nicht in San Marco, wie man denken könnte, sondern ganz im Osten der Stadt, in seiner Bischofskirche San Pietro di Castello. Da war vorher schon ein Bischofssitz mit Petruspatrozinium, weil als Nachfolger des Evangelisten Markus vor Ort der Doge galt. Das ist die Besonderheit Venedigs.
Insofern ist das eine Konstruktion, bei der auf den heiligen Markus zwar sakramententheologisch der Patriarchentitel zurückzuführen ist, die politische Nachfolge jedoch ohne Sakramententheologie, dafür aber mit umso schönerem Mythos, auf den Dogen übertragen wurde.
DOMRADIO.DE: Venedig galt lange Zeit als traditioneller Kardinalssitz. Doch unter Papst Franziskus ist der Patriarch der Lagunenstadt bei den Ernennungen bislang immer leer ausgegangen. Spielt Venedig in der katholischen Kirche nicht mehr die Rolle, die es einst innehatte?
Bölling: Noch im 20. Jahrhundert hat es ja eine sehr große Rolle gespielt, wenn man etwa an Päpste denkt, die aus Venedig stammten, Pius X. etwa oder – ganz wichtig – Johannes XXIII., der ja immerhin das Zweite Vatikanische Konzil einberufen hat, und auch Johannes Paul I., der "lächelnde Papst" Luciani, die alle vorher Patriarch von Venedig gewesen waren.
Wie jetzt die weitere Entwicklung sein wird, können dann zukünftige Historikerinnen und Historiker besser beurteilen. Aber in der Tat ist das ein historisches Novum.
Das Interview führte Jan Hendrik Stens.