Liest man das Grundgesetz in der Fassung von 1949 nur flüchtig und diagonal, könnte man es für die Verfassung eines christlichen Staates halten: Es beginnt mit den Worten: "Im Bewusstsein ihrer Verantwortung vor Gott und den Menschen...", und sein materieller Teil endet mit Festlegungen über die Sonntagsruhe, die Militärseelsorge und den Religionsunterricht.
In den 139 Artikeln dazwischen gibt es allerhand christliches Erbe: vom besonderen Schutz des Staates für Ehe und Familie über den konfessionellen Religionsunterricht an den staatlichen Schulen bis hin zur freien Religionsausübung und zum Kriegsdienstverweigerungsrecht.
Diese aus der christlichen Tradition stammenden Normen und Werte haben es sogar in den Katalog der Grundrechte geschafft: Sie dürfen selbst mit einer Zweidrittelmehrheit in ihrem Kern nicht abgeschafft werden.
Dennoch ist die Bundesrepublik kein schlichtweg "christlicher Staat" geworden - aber auch kein laizistischer. Verfassungsrechtler bezeichnen die Bundesrepublik Deutschland als ein Gebilde, das - anders als die benachbarte Französische Republik - Staat und Kirche zwar trennt, aber trotzdem eine enge Kooperation der beiden ermöglicht.
Wie hat es das Christliche ins Grundgesetz geschafft?
Das hat auch mit den katholischen und protestantischen Bischöfen zu tun, die sich in den Verfassungsdebatten von 1948 und 1949 manchmal auch mit gemeinsamen Eingaben Gehör verschafften. Damals sprachen sie noch für rund 90 Prozent der Bevölkerung der gerade entstehenden (westlichen) Bundesrepublik, Andersgläubige oder Atheisten waren noch eine kleine Minderheit.
Doch auch Sozialdemokraten, Liberale, Deutschnationale und Kommunisten wirkten nach Kräften mit, und im Ergebnis stellte das Grundgesetz eine ausgewogene Balance zwischen christlichen, linken und liberalen Ideen dar.
Zu manchen Kompromissformeln haben auch die zu massiven Versuche des Papstes und der katholischen Bischöfe beigetragen, die am liebsten das neue Gemeinwesen zu einem gänzlich "christlichen Staat" gemacht hätten.
Weil sie den Bogen überspannten, mobilisierten sie bei Sozialdemokraten und Liberalen im Parlamentarischen Rat Gegenkräfte. Hinzu kam die wichtige Figur des Ratspräsidenten Konrad Adenauer (CDU), der innerhalb des katholischen Lagers gegen eine allzu starke Rom- und Klerushörigkeit eintrat.
Verhältnis von SPD und katholischer Kirche bis in die 1960er Jahre schwer belastet
Die Bischöfe versuchten durch schriftliche Eingaben, durch Predigten und durch Kommentare in der damals noch auflagenstarken katholischen Presse (vom "Rheinischen Merkur" bis zum "Sonntagsblatt") Stimmung für ihre Standpunkte zu machen. In manchem konnten sie sich - (vermittelt durch die katholischen CDU- und Zentrums-Mitglieder im Rat) durchsetzen.
Doch als es etwa um die Konfessionsschulen oder um das alleinige Erziehungsrecht der Eltern ging, hielten vor allem Liberale und Sozialdemokraten entschieden dagegen.
Ein Brief von Papst Pius XII. an die deutschen Bischöfe, der im Mai 1949 veröffentlicht wurde und die Gegner des sogenannten Elternrechts in einer überzogenen Polemik gar in die Nähe der nationalsozialistischen Staatsdoktrin rückte, wirkte dann als "Schuss, der nach hinten los ging". Seither war das Verhältnis von SPD und katholischer Kirche bis in die späten 1960er Jahre schwer belastet; und das Elternrecht wurde im Grundgesetz zwar festgeschrieben, aber zugleich relativiert.
Stellung der Kirchen in weltanschaulich neutralem Staat verankert
Einen unauflösbaren Widerstreit der Positionen gab es bei wichtigen Fragen des Staatskirchenrechts. Das zeigt sich an dem Kompromiss des Artikels 140 auf den letzten Seiten des Grundgesetzes. Dieser war dem späteren Bundespräsidenten Theodor Heuss (FDP) zu verdanken. Dort wird - weil man sich auf nichts Besseres einigen konnte - einfach die Fortgeltung des Staatskirchenrechts aus der Weimarer Verfassung von 1919 festgestellt.
Mit Sätzen wie "Jede Religionsgesellschaft ordnet und verwaltet ihre Angelegenheiten selbstständig innerhalb der Schranken des für alle geltenden Gesetzes. Sie verleiht ihre Ämter ohne Mitwirkung des Staates." Oder: "Die Religionsgesellschaften bleiben Körperschaften des öffentlichen Rechtes" wurde die starke Stellung der Kirchen in einem weltanschaulich neutralen Staat fest verankert. Dieser Kompromiss war dem späteren Bundespräsidenten Theodor Heuss (FDP) zu verdanken.
Am Ende ist das im Grundgesetz verankerte "kooperative" Verhältnis von Staat und Kirche erstaunlich lange stabil geblieben. Selbst bei der Wiedervereinigung des Jahres 1990 wurde es nicht angetastet, obwohl 70 Prozent der Bevölkerung der untergegangenen DDR keine Kirchenbindung hatte.
Mittlerweile jedoch werden viele Elemente in Frage gestellt - auch weil der Anteil der Kirchenmitglieder an der Bevölkerung in ganz Deutschland inzwischen nur noch etwa 50 Prozent beträgt und auch der Islam eine stärkere Rolle in der Gesellschaft spielt.