KNA: Warum soll ich zur Europawahl gehen? Die EU ist doch weit weg von den Bürgern, sorgt vor allem für Bürokratie und kostet viel Geld.
Bischof Franz-Josef Overbeck (Bischof von Essen, Vorsitzender der Arbeitsgruppe Europa der Deutschen Bischofskonferenz und Delegierter bei der EU-Bischofskommission): Dieser Einschätzung widerspreche ich: Die Entscheidungen der EU betreffen heute sehr viele unserer Lebensbereiche unmittelbar. Denken wir nur an Migration, Klimaschutz, Landwirtschaft oder Wettbewerbs- und Handelspolitik. Deutschland ist ein Land, das wie vermutlich kein anderes von einem geeinten Europa profitiert. Die direkte Wahl des Europäischen Parlaments ist die hervorgehobene Möglichkeit, durch die wir Einfluss auf die Politik der EU nehmen können. Daher werbe ich intensiv dafür: Gehen Sie wählen!
KNA: Viele sprechen von einer "Schicksalswahl". Sie auch?
Overbeck: Es ist mir wichtig zu betonen, dass es bei dieser Wahl um eine grundlegende Entscheidung geht, wohin sich die EU entwickelt. Die europakritischen bis -feindlichen Stimmen im Europäischen Parlament drohen noch stärker zu werden als sie es ohnehin schon sind. Auf diese sehr ernste Lage müssen wir aufmerksam machen. Wenn ich mich recht erinnere, ist der genannte Begriff auch schon 2019 verwendet worden. Mit solchen Vokabeln bin ich daher eher vorsichtig.
KNA: Die EU begann mal als Friedensprojekt. Kann Sie heute noch zu mehr Frieden in der Welt beitragen? Oder ist sie völlig ohnmächtig zwischen China, Russland und den USA?
Overbeck: Heute ist die EU mehr als nur ein Friedensprojekt, nämlich vor allem auch ein Demokratieprojekt. Die EU praktiziert eine supranationale demokratische Willensbildung in einer Gemeinschaft, in der souveräne Staaten über Verträge verbunden sind. Sie hat sich überdies "eine in hohem Maße wettbewerbsfähige soziale Marktwirtschaft" zum Ziel gesetzt. Das sind zwei Beispiele, die der Überzeugung Ausdruck verleihen, dass wahrer Friede mehr ist als nur die Abwesenheit von Krieg.
Das ist umso wichtiger zu betonen angesichts des völkerrechtswidrigen Angriffs Russlands auf die Ukraine. Dort tobt ein Krieg in Europa, der das Potenzial für einen globalen Systemkonflikt hat: Demokratien gegen Autokratien und Diktaturen. Derartige Bedrohungen erfordern eine gut abgestimmte, gemeinsame Antwort der EU. Dann kann sie nach wie vor wirkmächtig zum Frieden in der Welt beitragen.
KNA: Die Kirchen warnen in ihrem Aufruf zur Wahl vor politischen Kräften, die im Sinne eines völkischen Nationalismus das Zusammenleben von Menschen unterschiedlicher Nationalitäten oder Herkunft ablehnen und unverblümt die Abschaffung der EU anstreben. Wie groß ist die Gefahr? Und was muss dagegen getan werden?
Overbeck: Ich halte die Gefahr durchaus für groß. Das geht letztlich mit Ihrer ersten Frage einher, warum wir zur Wahl gehen sollen: um die demokratische EU nicht denen zu überlassen, die sie abschaffen wollen oder eine antidemokratische Agenda verfolgen. Stattdessen sollten wir uns alle als Demokratinnen und Demokraten für unsere freiheitliche Grundordnung engagieren. Das gilt aber nicht nur für die Europawahl und die anderen Wahlen, die noch anstehen.
Es ist eine alltägliche Herausforderung, immer und entschieden zu widersprechen, wenn zum Beispiel jemand demokratieverachtende oder menschenfeindliche Wertungen äußert. Es sind nämlich schon solche Provokationen, die - leise und meist unmerklich - in kleinen Schritten die Grenzen des Sagbaren verschieben und gesellschaftliche Diskurse langfristig vergiften.
KNA: Die Kirchen sprechen auch von christlichen und menschenrechtlichen Verpflichtungen in der EU. Werden die erfüllt - etwa beim Asylpakt?
Overbeck: Die EU hat sich Werte und Prinzipien zur Grundlage gemacht, die im christlichen Glauben vor- und mitgeprägt worden sind, wie die Achtung der Menschenwürde oder die Freiheit. Es ist richtig, im politischen Handeln den Menschen in den Mittelpunkt zu stellen. Dazu gehört, dass sich die Bestimmungen der EU-Verträge auch in der politischen Programmatik niederschlagen müssen.
Zum Migrations- und Asylpaket der EU hat sich der Sonderbeauftragte der Bischofskonferenz für Flüchtlingsfragen, Erzbischof Stefan Heße, erst kürzlich im Rahmen des Katholischen Flüchtlingsgipfels geäußert. In meinem Eindruck ist diese Reform des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems (GEAS) hinter den Erwartungen zurückgeblieben, die die Kirchen im Vorfeld formuliert haben.
KNA: Und wie sieht es in anderen Bereichen aus? Etwa in der Klimapolitik oder beim Lieferkettengesetz?
Overbeck: Aus kirchlicher Perspektive ist die Klimapolitik ebenfalls ein herausgehobenes Feld, weil die Bewahrung von Gottes Schöpfung im christlichen Glauben ein Auftrag an alle Menschen ist. Das erfordert aus ethischer Perspektive einen ganzheitlichen Ansatz zum Schutz von Klima und Umwelt.
Der Erhalt unserer Lebensgrundlagen im Rahmen der planetaren Grenzen ist prioritär für eine soziale und gerechte Welt, sonst nützen uns weder ökonomische Gewinne noch soziale Maßnahmen. Nachhaltiges Wirtschaften dient dem Gemeinwohl. Die EU sollte, um glaubhaft zu sein, in ihrem ökologischen und ökonomischen Handeln weltweit stets den Menschen mit seiner unveräußerlichen Würde im Blick behalten.
KNA: Was ist mit dem Schutz des Lebens - etwa wenn ein EU-Grundrecht auf Abtreibung gefordert wird?
Overbeck: In Bezug auf das Lebensrecht beobachte ich, dass es in der EU stark voneinander abweichende nationale Rechtslagen gibt. Angesichts der hohen Hürden für die Einführung eines Grundrechts bin ich daher ausgesprochen skeptisch, ob dies für die EU überhaupt realistisch wäre.
In Bezug auf die deutsche Situation hat sich der Ständige Rat der Bischofskonferenz Ende April anlässlich des Berichts der Kommission zur reproduktiven Selbstbestimmung und Fortpflanzungsmedizin geäußert: Es ist dem Gesetzgeber dringend anzuraten, keine Veränderung der gesetzlichen Rahmenbedingungen vorzunehmen, weil diese sowohl Selbstbestimmung und Gesundheit der Frau als auch des ungeborenen Kindes schützen.
KNA: Auch beim Thema Digitalisierung setzt die EU wichtige Standards, etwa beim Umgang mit KI. Worauf sollte die EU da achten aus Sicht der Kirchen?
Overbeck: Zunächst ist es richtig, dass die EU mit der Setzung rechtlicher Standards überhaupt begonnen hat. Die Entwicklungen in diesem Bereich schreiten aber unfassbar schnell voran. Die Frage ist in aller Regel, wer die KI mit welchem Ziel und mit welchen Inhalten "trainiert". Haftung und Verantwortung können aber nicht an Maschinen weitergereicht werden. Das gilt insbesondere für Letztentscheidungen über Leben und Tod.
Als Katholischer Militärbischof für die Bundeswehr bin ich mit diesen Fragen immer wieder im Zusammenhang mit autonomen Waffen konfrontiert. Wenngleich der Mensch durch KI zwar begleitet oder unterstützt werden kann, dürfen Entscheidungen niemals maschinell automatisiert ablaufen. Insofern halte ich es für klug, wenn die EU darauf hinwirkt, autonom agierende Technik nach ethischen Prinzipien zu gestalten und zu nutzen.
Das Interview führte Gottfried Bohl.