Ein Rechtsruck auch bei Frankreichs Katholiken: Bei der Europawahl am Sonntag haben laut einer Umfrage des Meinungsforschungsinstituts Ifop 42 Prozent der praktizierenden Katholiken für den rechten Rand gestimmt.
Das sind mehr als doppelt so viele wie noch vor fünf Jahren (18 Prozent). Gleichzeitig erlebte die 2019 noch erfolgreiche bürgerliche Liste des Präsidenten mit 12 Prozent einen brutalen Absturz, wie die Zeitung "La Croix" (online Montagabend) berichtet.
Katholische Lehre wenig Einfluss auf Wahlverhalten
Fast ein Drittel der praktizierenden Katholiken (32 Prozent) stimmte demnach für die rechtsextreme Partei Rassemblement National (RN) von Marine Le Pen; 2019 waren es in dieser Wählergruppe noch 14 Prozent gewesen. Weitere 10 Prozent erhielt die rechtsextreme Liste Reconquete! von Marion Marechal.
Der Meinungs- und Strategiedirektor von Ifop, Jerome Fourquet, erinnerte daran, dass der bürgerliche Kandidat Francois Fillon bei der Präsidentenwahl vor nur sieben Jahren im ersten Wahlgang noch fast jeden zweiten praktizierenden Katholiken (46 Prozent) für sich gewinnen konnte.
Den Aufstieg des RN in dieser Wählergruppe habe erst Le Pens Strategie der Entdämonisierung ermöglicht, analysiert Fourquet. Die Partei habe sich von der "schwefelhaltigen und radikalen Seite der Ära von Jean-Marie Le Pen entfernt". Zu Recht oder zu Unrecht habe sich das Image seither erheblich verändert. Der Religionssoziologe Philippe Portier befindet, trotz eigentlich sehr klarer Botschaften der französischen Bischöfe habe die katholische Lehre wohl nur noch sehr wenig Einfluss auf das Wahlverhalten.
Christdemokratische Verbundenheit schwindet
Zwar gebe es noch eine christdemokratische Verbundenheit mit der Europäischen Union, so Ifop-Analyst Fourquet; doch verliere diese Strömung deutlich an Dynamik. Auch knapp ein Fünftel der praktizierenden Katholiken habe diesmal für Grüne und Linke gestimmt. Thematische Trennlinien zwischen dem einst bürgerlich-katholischen Block seien heute etwa auch Fragen von Sicherheit, Identität oder dem Verhältnis zum Islam.
Unter den rund sechs Millionen Muslimen in Frankreich stimmten laut der Ifop-Umfrage knapp zwei Drittel (62 Prozent) für dielinkspopulistische Liste La France insoumise (LFI); der rechtsextreme RN erhielt hier 6 Prozent. Auch bei der Präsidentenwahl 2022 hatte LFI-Parteichef Jean-Luc Melenchon bei dieser Wählergruppe eine Zustimmung von 69 Prozent.
"Zu distanziert und zu bürokratisch"
Religionsvertreter äußerten sich teils entsetzt, teils zurückhaltend zum Ausgang der Wahlen. Die Französische Bischofskonferenz verwies lediglich auf ihre Erklärung zum europäischen Projekt, die zu den Gedenkfeiern zum D-Day veröffentlicht wurde.
Der Vizepräsident der EU-Bischofskommission COMECE, Erzbischof Antoine Herouard, beobachtet eine Infragestellung europäischer Institutionen, die "als zu distanziert und zu bürokratisch" angesehen würden. Die Wahlergebnisse seien auch Ausdruck von Angst vor Krieg, Migration und wirtschaftlichem Abstieg.
"Politischer Tsunami"
Der COMECE-Vizepräsident hält die Auflösung der französischen Nationalversammlung durch Präsident Emmanuel Macron für gefährlich. Der RN könne durchaus gewinnen. Man mache sich nun zwar ehrlich; aber: "Das kann schmerzhaft sein", so der Erzbischof von Dijon. Regelrecht bestürzt über einen "politischen Tsunami", der durch die Ankündigung der Parlamentsauflösung ausgelöst worden sei, äußerte sich ein Kirchenvertreter gegenüber "La Croix", der aber nicht namentlich genannt werden wolle. Er gehe dieser neuen Zeit "mit Gebeten entgegen".
Frankreichs Oberrabbiner Haim Korsia äußerte sich trotz der Umstände zuversichtlich. Die Ergebnisse der EU-Wahl machten Macrons Entscheidung nachvollziehbar. Nun erfahre man, "wo wir stehen", erklärt der Rabbiner; und: "Wir müssen an die innere Weisheit des Volkes glauben."
Instrumentalisierung von Identität befürchtet
Der Rektor der Großen Moschee von Paris, Chems-Eddine Hafiz, zeigte sich dagegen sehr besorgt über eine mögliche Machtübernahme der Rechten. Die Instrumentalisierung von Identität und von sozialen und wirtschaftlichen Problemen sei "ein echtes Gift für unser Land und unseren Kontinent", sagte der in Algerien gebürtige Rechtsanwalt. Er wolle sich gar nicht vorstellen, dass eine Partei die Regierung übernimmt, die republikanische Ideale wie Toleranz und Nichtdiskriminierung derart missachteten.
Er wolle nun vor allem für eine hohe Wahlbeteiligung unter den Muslimen werben, kündigte Hafiz an. Die Große Moschee von Paris unterstütze keine Partei; aber sie werde "eindeutig dazu aufrufen, die extreme Rechte zu blockieren", die "eine sehr ernste Bedrohung für das religiöse Zusammenleben und die Einheit Frankreichs und Europas darstellt".