DOMRADIO.DE: Seit 30 Jahren hat Kolping einen Konsultativstatus bei der Internationalen Arbeitsorganisation ILO, die sich als Unterorganisation der Vereinten Nationen weltweit für Arbeits- und Menschenrechte einsetzt. Was bedeutet das?
Dr. Markus Demele (Generalsekretär von Kolping International): Die ILO ist eine ganz besondere Organisation, aber leider auch eine der unbekanntesten UN-Sonderorganisationen, obwohl sie die älteste ist. Besonders macht sie, dass dort – im Gegensatz zu anderen UN-Organisationen – nicht nur Regierungsvertreter zusammenkommen, sondern auch Arbeitnehmer- und Arbeitgebervertreter sowie Vertreterinnen und Vertreter der Zivilgesellschaft. Und dazu gehört eben auch Kolping International.
DOMRADIO.DE: Welche Themen haben Sie dort in der Vergangenheit eingebracht?
Demele: Als ein Verband, der rund 400.000 Mitglieder in 60 Ländern der Welt hat, hören wir natürlich unglaublich viel von den Nöten der Menschen vor Ort: Wie ist es in der informellen Wirtschaft, wenn Menschen ohne Arbeitsvertrag und ohne soziale Sicherung arbeiten? Wenn es keine Arbeitsschutz gibt, keine Arbeitsinspektion? Das wird in den verbindlichen Gremien immer wieder thematisiert.
Und unsere normative Brille, wenn man so möchte, ist die katholische Soziallehre, die eine unserer verbandlichen Säulen ist und besagt, dass die Würde des Menschen auch in der Arbeitswelt nicht verdunkelt werden darf. Im Gegenteil: In Johannes Paul II. schrieb einmal: "In der Arbeit wird der Mensch mehr Mensch”. Das ist für uns ein Leitbild, das wir zum Strahlen bringen wollen. Und bei der ILO versuchen wir als Delegierte immer wieder, genau daran zu erinnern.
DOMRADIO.DE: Was waren die wichtigsten Themen, die Sie dort in der Vergangenheit vorangetrieben haben?
Demele: Das war mit Sicherheit die Mitarbeit an der "Hausangestellten-Konvention” aus dem Jahr 2011, weil das ein Bereich ist, in dem es ein großes politisches Ringen gab. Und weil Hausangestellte in vielen Ländern der Welt ein Schattendasein führen, über deren individuelle Arbeitsbedingungen man wenig weiß.
Da sind wir zu einem Übereinkommen gekommen, das besagt, dass Hausangestellte Schutzrechte haben, die es durchzusetzen gilt. Und es ist Aufgabe des Staates, dafür zu sorgen, dass auch im Privathaushalt niemand seiner Rechte beraubt wird. Das war neben dem Thema der Migration der Wanderarbeiter eines der ganz wichtigen Themenfelder, wo wir mit vielen anderen katholisch inspirierten Organisationen gemeinsam gearbeitet haben.
DOMRADIO.DE: Trotz politischer Arbeit, Aufklärung und Bewusstseinsbildung scheint sich die Situation nicht zu verbessern. Weltweit verrichten zum Beispiel rund 160 Millionen Jungen und Mädchen Kinderarbeit. Seit 2016 ist ihre Zahl um 8,4 Millionen gestiegen. Warum?
Demele: Der ILO-Generaldirektor hat in seinem diesjährigen Bericht zur Internationalen Arbeitskonferenz auf den Begriff der "Politikkohärenz” gebracht und darauf hingewiesen, dass es nichts bringt, wenn wir in einem Bereich, nämlich der internationalen Arbeitspolitik, Normen und Übereinkommen haben, die aber in anderen Politikfeldern wie der Wirtschafts- und Arbeitsmarktpolitik nicht durchgesetzt und dort bisweilen sogar konterkariert werden.
Leider sind wir in einer Phase des globalen Kapitalismus, wo es immer mehr Akteure gibt, die wieder eine liberale Doktrin wie in den 1990er Jahren verfolgen und sagen: Wenn Kosten für Kriege oder die sozialökologische Transformation steigen, sparen wir im sozialen Bereich oder beim Arbeitsschutz.
Da dürfen wir auf keinen Fall mitgehen. Das ist eine zivilisatorische Leistung, die wir aufgeben, wenn wir zulassen, dass Sklaven- oder Kinderarbeit mehr werden und nicht weniger.
DOMRADIO.DE: Ist dann die ILO ein zahnloser Tiger?
Demele: Leider ja. Die ILO hat wenig Sanktionsmöglichkeiten, die auch nur sehr selten gezogen werden. Aber möglicherweise ist das auch nicht die Kernaufgabe, das kann man beim Thema Kinderarbeit beobachten. Es gab ein zähes Ringen um die Definition, was ausbeuterische Kinderarbeit überhaupt ist.
Aber die ILO hat da Zähne, wo sie es schafft, Menschen und Regierungen zu überzeugen, sich doch für Kinderrechte einsetzen. Das ist nicht so wirksam wie Sanktionen, es ist ein langer Prozess, aber da hat die ILO die Kraft des guten Arguments auf ihrer Seite.
DOMRADIO.DE: Kolping International hat sich zusammen mit zahlreichen anderen christlichen und sozialen Initiativen jahrelang für ein EU-Lieferkettengesetz eingesetzt, das sicherstellen soll, dass Produkte, die auf dem europäischen Markt verkauft werden, unter menschenwürdigen Bedingungen hergestellt wurden. Darum gab es zunächst ein zähes Ringen, auch weil Deutschland nicht mehr mitgehen wollte. Am Ende kam es im Frühjahr 2024 in abgeschwächter Form: Es soll jetzt zum Beispiel nur noch für Unternehmen ab 1.000 Beschäftigten gelten, auch die Möglichkeit einer zivilrechtlichen Haftung wurde abgeschwächt. Sind Sie enttäuscht?
Demele: Es ist ein erster Fuß in der Tür. Es ist gut, dass es diese EU-Richtlinie gibt, weil sie in vielen Punkten weiter als das deutsche Gesetz geht. Sie ist mit Sicherheit noch nicht hinreichend, aber es ist wirklich ein wichtiger erster Schritt, den es nun auch umzusetzen gilt. Und alle Versuche, das auf nationalstaatlicher Ebene zu verhindern oder hinauszuzögern, scheitern hoffentlich.
Wir können nicht den Wohlstand Europas auf dem Rücken der Menschen im globalen Süden retten, indem wir die Augen davor verschließen, dass Menschen für Produkte ausgebeutet werden, die wir hier in Deutschland und Europa kaufen.
DOMRADIO.DE: In Deutschland ist bereits seit dem 1. Januar 2023 ein nationales Lieferkettengesetz in Kraft. Die CDU/CSU-Fraktion hat am 14. Juni 2024 einen Gesetzentwurf zur Aufhebung des Gesetzes eingebracht. Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck hat überraschend vorgeschlagen, das Gesetz für zwei Jahre auszusetzen. Macht Deutschland da eine Rolle rückwärts?
Demele: Es besorgt mich, weil anscheinend ein Bewusstsein für die moralische Pflicht abhanden kommt, dass Unternehmen in ihrer Lieferkette für bestimmte ethische Standards Sorge tragen. Und dazu gehören sowohl der Schutz der Menschenrechte als auch der Umwelt.
Auf der anderen Seite glaube ich nicht, dass es dafür eine Mehrheit geben wird. Wir haben eine ganz breite zivilgesellschaftliche Allianz beim Einsatz für das Lieferkettengesetz gehabt, auch auf EU-Ebene: Gewerkschaften, Kirchen, Bischöfinnen und Bischöfe und Verbände wie Kolping. Und auch Umfragen zeigen, dass die Bürgerinnen und Bürger das wollen. Für Unternehmen bedeutet es zwar bürokratischen Aufwand, aber der ist minimal.
Und CDU und CSU müssen dann auch mal erklären, wie sie sicherstellen wollen, dass es nicht zu ausbeuterischen Lieferketten-Beziehungen kommt. Bisher habe ich von den beiden Parteien noch keinen Alternativvorschlag gehört.
DOMRADIO.DE: Habeck begründet sein Moratorium mit der Anpassung des EU-Gesetzes an deutsches Recht und der wirtschaftlichen Schwäche Deutschlands. Halten Sie das für plausibel?
Demele: Es ist nachvollziehbar, dass es Harmonisierungsbedarf gibt. Auf der anderen Seite besagt die EU-Richtlinie sehr klar: Da, wo schon ein nationales Gesetze existiert, gilt immer der höhere Standard. Wenn man also behauptet, Unternehmen wüssten jetzt nicht, woran sie sich orientieren sollen, dann ist das falsch. Es gilt immer der jeweils höhere Standard in einem bestimmten Bereich. Unternehmen können sich also darauf einstellen, welche Regelungen gelten und das sollten sie auch jetzt schon machen.
Ich weiß nicht, wie man einem Kind, das als Sklave auf einer Plantage in Westafrika arbeitet, erklären will, dass es mit den Menschenrechten da noch etwas dauert. Zu sagen: "Nein, tut mir leid, aber wir haben noch bürokratische Hürden zu bewältigen und das sind zu hohe Kosten, darum schieben wir solche Kontrollen noch ein paar Jahre auf." Das geht einfach nicht!
Das Interview führte Ina Rottscheidt.