Sie ist Europäerin – quasi von Geburt an. Ursula von der Leyen ist 1958 als drittes von sieben Kindern in Brüssel zur Welt gekommen, wuchs zweisprachig auf und besuchte dort bis 1971 die Europa-Schule. Damals arbeitete ihr Vater Ernst Albrecht (CDU), der spätere Ministerpräsident von Niedersachsen, für die im Aufbau befindliche Europäische Gemeinschaft.
"Lang lebe Europa" – mit dieser Parole warb von der Leyen am Donnerstag vor dem EU-Parlament in Straßburg in ihrer halbstündigen Bewerbungsrede um Zustimmung. 401 und damit die absolute Mehrheit der von 707 abgegebenen Stimmen gaben Grünes Licht für ihre zweite Amtszeit als Kommissionspräsidentin. Und bewahrten die EU damit vor einem monatelangem Machtvakuum.
Ihre Wahl war kein Selbstläufer: Vorgeschlagen von den Staats- und Regierungschefs der EU, war sie auf die Stimmen der europäischen Sozialdemokraten und Liberalen sowie von Grünen angewiesen. Es gab keinen Fraktionszwang. 2019 hatte die CDU-Politikerin bei ihrer ersten Wahl gerade einmal neun Stimmen mehr als notwendig erhalten.
Um Vertrauen geworben
In den vergangenen Wochen hatte von der Leyen deshalb an viele Türen geklopft und um Vertrauen geworben. Sie besuchte sowohl die Linken und Grünen, als auch die Rechtsaußen-Fraktion EKR, zu der die Fratelli d'Italia von Italiens Ministerpräsidentin Giorgia Meloni gehören.
Reizthemen gab es zur Genüge: Gerade erst hat die EU-Kommission entschieden, dass sie die ungarische Ratspräsidentschaft wegen der Reisen von Viktor Orban nach Moskau und Peking teilweise boykottiert.
Die Grünen verlangten von der Kommission, dass der Green Deal, das EU-Klimaschutzprogramm, ausgebaut wird – viele aus von der Leyens eigener EVP-Fraktion sehen das anders. Die Liberalen forderten eine Abkehr vom Aus für den Verbrennermotor.
Von der Familie geprägt
Nicht nur das markante Lächeln hat von der Leyen von ihrem Vater geerbt, auch die Begeisterung für Politik: "Er hat zu Hause immer ausgestrahlt, dass es Spaß macht, wenn man etwas bewegt", erzählte sie. Von der Leyen wuchs in einem protestantisch geprägten Elternhaus auf und ist Mitglied in der evangelisch-lutherischen Kirche.
Die junge Medizinerin ordnete zunächst eine geplante Karriere als Ärztin der wachsenden Kinderzahl und den familiären Aufgaben unter. 1992 folgte sie ihrem Mann, Geschäftsführer eines Biotec-Unternehmens, zu einem Forschungsstipendium an die US-Universität Stanford.
Dort machte sie ein Diplom in Bevölkerungsmedizin und absolvierte eine Zusatzausbildung in Krankenhausmanagement.
Für viele Spitzenämter im Gespräch
Ähnlich wie ihre Förderin Angela Merkel fand von der Leyen erst spät in die aktive Politik, zog 2003 in den niedersächsischen Landtag ein und wurde Ministerin für Soziales, Frauen, Familie und Gesundheit.
Gehandelt wurde sie schon für viele Spitzenämter: Als Bundeskanzlerin war sie ebenso im Gespräch wie als Bundespräsidentin. Merkel holte sie 2005 zu den Bundestagswahlen in ihr "Kompetenzteam": Im selben Jahr wurde sie Bundesfamilienministerin, ab 2009 Bundesarbeitsministerin und 2013 dann als erste Frau Verteidigungsministerin.
Modernisierung des Familienbilds
Die jugendlich-forsch wirkende Mutter von sieben Kindern galt Konservativen als Vorzeigefamilienministerin und Liberalen als Verheißung der Vereinbarkeit von Familie und Beruf. Dabei sorgte sie gegen erheblichen Widerstand für eine Modernisierung des Familienbilds der Union.
Mit der Einführung des Elterngelds folgte sie dem Leitbild der berufstätigen Eltern und einer liberalen Gleichstellungspolitik. Für scharfe Kontroversen sorgte auch der vor ihr vorangetriebene Ausbau der Krippenplätze. Vertreter des konservativen Flügels von Union und katholischer Kirche warfen ihr den Abschied vom traditionellen Familienbild vor.
Europa am Scheideweg
2019 kehrte von der Leyen dann als Kommissionspräsidentin zu ihren familiären Wurzeln in Belgien zurück. Dass ausgerechnet der französische Staatspräsident Emmanuel Macron sie als EU-Kommissionspräsidentin vorschlug, galt als Überraschungscoup.
Auch in Brüssel musste sie mit vielen Bedenken klarkommen: Manchen Konservativen war sie zu grün. Die Grünen verdächtigen sie, sie schwäche aus ökonomischen Gründen die Klima- und Umweltpolitik. Den Sozialdemokraten war sie zu konservativ.
Politisch ruhige Zeiten kann sie nicht erwarten: Europa stehe am Scheideweg, sagte von der Leyen in ihrer Bewerbungsrede. Die ungelöste Flüchtlingskrise, Druck von außen durch Russland, Donald Trump, Chinas Konkurrenz auf den Märkten.
Herausforderungen von innen und außen
Druck von innen durch rechte Regierungen, Extremisten und Demagogen und einen wachsenden Anteil europakritischer Abgeordneter im Europaparlament. Viele Herausforderungen, die eine geschlossene Antwort der EU erfordern.
Wie sehr sich die mächtigste Frau Europas in ihre Aufgaben kniet, wird darin deutlich, dass sie in ihrem Büro im Brüsseler Berlaymont-Gebäude nicht nur arbeitet, sondern hier auch isst und schläft.