DOMRADIO.DE: Was war Ihre erste Reaktion, als Sie von den Vorwürfen gegen Abbé Pierre erfuhren?
Elli Kreul (Emmaus-Gesellschaft Krefeld): Es war natürlich ein absoluter Schockzustand. Es ist unfassbar und passt einfach nicht zu dem Bild, das wir von Abbé Pierre haben.
DOMRADIO.DE: Sie haben Abbé Pierre auch persönlich kennengelernt. Haben Sie da irgendwas erlebt, was auf ein solches Verhalten schließen könnte?
Kreul: Nein. Er hatte von sich aus in einem Buch ein paar Jahre vor seinem Tod geschrieben, dass er in seiner Anfangszeit als Priester auch zärtliche Beziehungen zu Frauen hatte.
Er hat das so als "Geständnis" in diesem Buch geschrieben, aber dass es so weit gehen könnte, dass er ungewollt Frauen etwas aufdrängt, das hätte ich niemals erwartet.
DOMRADIO.DE: Sie haben uns vor einigen Wochen in einem Interview gesagt, dass Sie mit der Aussage von Abbé Pierre, dass das Leid des Nächsten zum eigenen Leid werden müsste, gar nicht einverstanden sind. Man bräuchte zum Nächsten den entsprechenden Abstand. Ist diese Form der Empathie des Abbé Pierre vielleicht auch ein Einfallstor für seine mutmaßlichen Übergriffe?
Kreul: Das halte ich tatsächlich für gewagt. Ich finde es schwierig, darauf zurückzuschließen. Er hat das Zölibat sein Leben lang kritisiert und gesagt, dass es besser wäre, wenn Priester auch die Möglichkeit hätten, ein normales Familienleben zu leben.
Ich denke schon, dass es in der katholischen Kirche nicht so gesund ist, dass es das Zölibat immer noch gibt. Das könnte vielleicht vielen Priestern helfen, ihr Amt noch einmal anders zu leben und aufweichen, dass sie die Sexualität nicht leben können.
DOMRADIO.DE: Die Vorwürfe beziehen sich auf Fälle, die zwischen dem Ende der 1970er-Jahre und 2005 gegenüber Angestellten, Freiwilligen und Ehrenamtlichen der Emmaus-Organisation sowie auch jungen Frauen aus seinem privaten Umfeld geschehen sein sollen. Was versprechen Sie sich von der Aufarbeitung?
Kreul: Erst einmal ist das super schockierend und erschreckend, dass das geschehen ist und dass man es erst heute erfährt. Ich denke mal, das ist auch eine gesellschaftliche Situation, die es besser zulässt. Das spricht natürlich für die Frauen. Wir erhoffen uns von der Aufarbeitung, dass wir wieder Vertrauen schaffen können. Es ist ein gewisser Vertrauensbruch.
Man fühlt sich natürlich als Bewegung ein Stück mit in der Verantwortung. Es ist ganz wichtig, noch mal hinzuschauen. Wir stellen uns in einem Treffen der deutschen Emmaus-Gruppen auch die Frage, wie wir damit umgehen.
Müssen wir mehr unternehmen, als auch jetzt in den Medien eine Stellung zu beziehen? Sprechen wir noch mal mit Frauenberatungsstellen? Es ist uns auf jeden Fall wichtig, den Opfern gerecht zu werden. Es ist ganz klar, dass das nicht mit den Emmaus-Ideen übereinstimmt.
DOMRADIO.DE: Was bedeuten die Vorwürfe gegen den Gründer Ihrer Bewegung für Ihre Arbeit?
Kreul: Das wird sich in den nächsten Wochen zeigen. Ich denke mal, dass wir uns auch ein eigenes Vertrauen und Beziehungen geschaffen haben. Die Menschen, die uns hier als Gruppe kennen, haben ja mehr mit uns zu tun.
Die Emmaus-Arbeit schmälert das nicht. Die Sinnhaftigkeit dessen, was wir hier tun, bleibt erhalten. Es ist jetzt nur so, dass wir nicht wissen, wie die Menschen um uns herum reagieren werden.
Ich gehe davon aus, dass es bei den Menschen, die uns gut kennen und die uns bisher wohl gesonnen waren, keinen Abbruch tut. Bei anderen weiß man es eben nicht. Wir können nur das tun, was in unserer Macht steht.
Das Interview führte Jan Hendrik Stens.