Von den hinteren Reihen des Kölner Doms ist kaum zu erkennen, worum es eigentlich geht. "Wo ist diese Reliquie von Carlo? Ist es der kleine Pokal da vorne?", fragt eine Frau während sie den Altarraum mit ihren Blicken absucht. Ja, das ist er. Etwa 30 Zentimeter hoch, golden, schnörkelig verziert, mit einem kleinen Foto des 2006 verstorbenen Teenagers und jetzt Fast-Heiligen Carlo Acutis in der Mitte. Das Wichtigste, was die Reliquie überhaupt zur Reliquie macht: ein fingergroßes Stück seines Herzens. Doch genau das sorgt auch für Kritik. Aber dazu später mehr.
Keine "Anbetung"
Hunderte sind am Mittwochabend in die Kathedrale gekommen, um die Herzreliquie zu verehren. Domkapitular Christoph Ohly legt viel Wert darauf, dass es nicht "Anbetung" genannt wird, als er Fernsehsendern erklärt, worum es eigentlich geht. Die Verehrung von Heiligen und Reliquien sei im Kölner Dom durchaus bekannt, schließlich lägen hier in einem goldenen Schrein die Gebeine der Heiligen Drei Könige. "Sie ist ein Ausdruck dafür, dass Menschen, die uns den Weg des Glaubens in der Geschichte vorausgegangen sind, Vorbilder und Ermutiger sein können", sagt er. Es gehe darum, dieses Andenken in Ehren zu halten. Die Anbetung sei jedoch Gott vorbehalten.
Und so steht die Reliquie in der Abendmesse, die Ohly hält, auch nicht auf dem Altar, wo man eigentlich suchen würde, sondern ein paar Meter links daneben, auf einem rot gepolsterten Schemel, Kerzen links und rechts, davor ein Blumengesteck. Während des großen Einzugs trägt Pater Marco Gaballo die Reliquie, die er auf ihrer Wallfahrt durch Deutschland, Belgien und die Niederlande begleitet, herein. Schon jetzt zücken viele Gläubige ihr Handy, wollen ein Video, einen Schnappschuss. Auch während der Messe gehen die Displays immer wieder in die Höhe.
Acutis, der durch das Internet bekannt wurde, der "Cyber-Apostel", der "Influencer Gottes", wie ihn die Menschen getauft haben, bewegt auch Jahre nach seinem Tod. Dass Papst Franziskus ihn in den nächsten Monaten heiligsprechen will, hat den Trubel um seine Person noch einmal entfacht. Zurecht? Domkapitular Ohly, der auch die Messe zelebriert, blickt persönlich eher nüchtern darauf. Aber in seiner Predigt macht er deutlich, dass die Worte und Taten Acutis‘ viele Menschen berühren und inspirieren. Er zitiert ihn: "Die Heilige Eucharistie ist meine Autobahn in den Himmel." Ein tiefgläubiger Mensch mit einem beeindruckenden Lebenszeugnis. Es geht um die Liebe zu Gott, zum Nächsten, zum eigenen Leben. Dabei ist Acutis selbst nur 15 Jahre alt geworden und an einer aggressiven Leukämieerkrankung gestorben.
"Eine Stunde Ruhe vom Alltag"
Den 29 Jahre alten Kölner Marvin hat der Selige Carlo dazu gebracht, die Konfession zu wechseln. Im Mai ließ er sich firmen. "Mich hat bewegt, wie er sich um arme Menschen in seiner Region gekümmert hat", erzählt er. Als er erfuhr, dass er heiliggesprochen werden soll und die Wallfahrt in Köln Halt macht, war klar, dass er dabei sein will. "Ich habe so eine Reliquienverehrung noch nie mitgemacht und bin da völlig unvoreingenommen." Was er sich davon verspricht? "Eine Stunde Ruhe vom Alltag."
So viele kommen, um Acutis zu verehren, es gibt aber auch Kritik. Nach dem Stopp in München wurden Rufe laut, die das Entnehmen eines Stück des Herzens als nicht mehr zeitgemäß oder gar als "Leichenfledderei" betiteln. Marvin findet das nicht problematisch, im Gegenteil. "Ich denke, es wäre in seinem Sinne gewesen." Acutis habe schon in einer digitalisierten Welt gelebt, die in den vergangenen Jahren noch digitalisierter wurde. Er fand vor allem bei jungen Menschen einen Zugang. "Die Generation 60 Plus wird noch nicht so viel von ihm gehört haben", sagt Marvin. Die Sitzbänke im Dom untermauern seine These. "So eine Reliquie ist greifbarer als die bloße Verehrung im Internet." Sam, 28, fasst es knapper zusammen: "Eine Reliquie ist nicht unzeitgemäß, sondern zeitlos."
Viele wollen die Reliquie berühren
Das Bedürfnis, wertvolle, besondere oder gar heilige Gegenstände berühren zu wollen, sei menschlich, erklärt Ohly dazu. "Wir kennen das ja auch aus dem eigenen Leben, wo uns Gegenstände von Menschen wichtig werden oder da, wo Menschen ihren Namen an besonderen Orten auf die Wände zeichnen und somit ein Stück von sich selbst hinterlassen."
Und so wollen viele auch die Herz-Reliquie berühren. Im Anschluss an die Messe knien sich die Messgänger noch rund eine Stunde lang vor den Altarraum. Sie küssen sie, berühren sie mit den Händen und dem Handy, mit dem Rosenkranz und einem weißen Tuch oder mit Fotos der Familie. Zeitweise wird es sogar vor dem Dom unruhig, weil Menschen noch die Reliquie sehen wollen, der Eingang jedoch geschlossen ist – die Domschweizer schlichten.
"Carlo hat viele gute Sätze gesagt, die sehr kurz und trotzdem lebenswichtig sind", sagt die 21-jährige Sophia, die auch unter denen ist, die warten und sich hinknien. "Alle Menschen werden als Originale geboren, aber viele sterben als Fotokopien", hat Acutis gesagt. "Das Internet gaukelt uns vor, dass wir Schönheitsidealen entsprechen sollen. Aber ich will doch nicht als billige Kopie sterben. Gott hat jeden von uns zu einem Original gemacht, das kostbar und wertvoll ist. Du bist einzigartig unter fast neun Milliarden, und das ist crazy", sagt Sophie. Das trifft auch auf Carlo Acutis zu.