Jeside berichtet von Erfahrungen mit Genozidflüchtlingen

Nächstenliebe großgeschrieben

Vor zehn Jahren überfiel der „Islamische Staat“ die Jesiden, versklavte Frauen und Kinder. Wer konnte, floh. Salhattin Kizilyel war einer der ersten, der die Flüchtlinge in Deutschland empfing. Und er dankt den Kirchen.

Autor/in:
Clemens Sarholz
Angehörige weinen, als die sterblichen Überreste von 41 Jesiden, die in einem Massengrab im Sinjar-Distrikt gefunden wurden. / © Ameer Al-Mohammedawi (dpa)
Angehörige weinen, als die sterblichen Überreste von 41 Jesiden, die in einem Massengrab im Sinjar-Distrikt gefunden wurden. / © Ameer Al-Mohammedawi ( dpa )

Das erste, was Salhattin Kizilyel auffiel, als er vor zehn Jahren jesidische Flüchtlinge empfing, war der Geruch. Ein Bus voller Menschen, die wochenlang keine Möglichkeit hatten sich zu pflegen. „Das war menschenunwürdig, wie sie nach Deutschland kamen; wie sie den Weg geschafft haben, mit dem Wenigen was sie hatten.“ Und dann erstmal ein Aufatmen. Sie sind angekommen im sicheren Westen. Die Gesichter vergisst er nicht. Denn auch wenn sie angekommen waren, sagt er, hat man gesehen was sie hinter sich hatten.

Eine lange Flucht zu Fuß durch das Shingal-Gebirge. Das liegt im Norden Iraks, nicht weit entfernt von dem Ort, wo vor genau zehn Jahren der Völkermord an den Jesiden begann. Einer Religionsgemeinschaft, die meistens Kurdisch spricht und die es schon vor dem Islam gab; die von Muslimen häufig als Teufelsanbeter abgestempelt und von Iraks Diktator Saddam Hussein verfolgt wurde. Der Hass auf die Jesiden gipfelte im Pogrom von August 2014, als 5000 Männer und Jungen ihre Dörfer überrannten, die Männer verbrannten, erschlugen und erschossen und in Schluchten schmissen. 7000 Kinder und Frauen wurden versklavt und vergewaltigt. 

Nach hinten schauen

Kizilyel erinnert sich an die aufgerissenen Augen der Kinder und die Gespräche mit den Geflüchteten. Wie sie ihre Kinder auf dem Rücken trugen, wie sie immer nach hinten geschaut haben, wie sie kein Wasser und keine Nahrung hatten. Während er das erzählt, steht er in seinem Dönerladen in Celle, wo es die größte jesidische Gemeinde Europas gibt, und bedient seine Gäste. „Wir können uns nicht vorstellen, was die durchgemacht haben.“

Und dann war da diese riesige Solidarität. Kizilyel, den alle nur Hatti nennen, war am Arbeiten als die Nachricht vom Völkermord um die Welt ging. Er ist Jeside und die Menschen kamen zu ihm, wollten wissen wie es ist. „Was kann man denn jetzt tun?“, „Wie geht es denn jetzt weiter?“ Gemeinsam gingen sie, wie viele tausende Menschen in ganz Europa, auf eine Kundgebung. „Und dann sind wir an der Stadtkirche vorbeigekommen und die Menschen kamen heraus und sind mit uns mitgelaufen.“ Da habe er gemerkt, sagt er, dass bei vielen Christen das Thema „Nächstenliebe“ großgeschrieben wird.

An einem anderen Tag, er packte gerade einen 7,5 Tonner, standen auf einmal Menschen vor ihm. Es waren die aus der Kirche. Sie brachten Kartons mit Babynahrung. Denn die Geflüchteten, das wussten sie ja von „Hatti“, brauchen Nahrung für die Babys, die sie auf dem Arm und auf dem Rücken trugen.

Religionsgemeinschaften zusammenschweißen

Aber es waren nicht nur die Christen. Auch die Juden aus der Synagoge und die muslimischen Gemeinden waren auf einmal da. Die Imame hatten sich distanziert von den Mördern, sagt Kizilyel, von dem IS, der ja für sich beansprucht, eine Gruppe von Gläubigen zu sein. Aber das ist ja keine Religionsgemeinschaft, sagt er, sondern eine Terrorgemeinschaft. Und Terror habe mit Religion nichts zu tun.

Das habe die Religionsgemeinschaften zusammengeschweißt. Im Herzen seien sie, trotz der verschiedenen Konfessionen, doch eigentlich nicht weit weg voneinander. Aber das sei ja klar. "Wenn im Namen Allahs Menschen getötet werden, schmerzt das auch viele gläubige Moslems."

Brücken bauen

Für Kizilyel war das ein Impuls sich mehr zu engagieren. Damals war er schon ehrenamtlich bei den Maltesern. Heute sitzt er im Landkreis im Kreistag und in Celle im Stadtrat. Und er besucht Schulen, spricht mit den jungen Menschen über die jesidische Lebensart, über Toleranz gegenüber Religionen. Da habe er die Chance, sagt er, Brücken zu bauen, zwischen den Religionen, Ethnien und den Schülern.

Den Menschen erzählt er gerne eine Geschichte, die ihm Mut gemacht hat, als er die flüchtenden Jesiden empfing. Dort war eine Frau, die sehr aufgelöst war und alles verloren hatte. Ihre ganze Familie. Nur ein einziges Kind hatte es geschafft, dem IS zu entkommen. Sie waren noch gemeinsam auf der Flucht, doch im Wirrwarr der Gebirgsketten, die sie zu Fuß durchliefen, hat sie auch ihr letztes Kind verloren. Er wisse nicht mehr wie das kam, sagt er, aber das Kind war am Leben und sie haben sich wiedergefunden.

"Echt gruselig"

Es brauche gute Geschichten, findet er. Gerade jetzt. Denn es wird wieder gewarnt. Hunderte IS-Kämpfer sollen auf dem Weg in den Irak sein. Das will die Internationale Gesellschaft für Menschenrechte (IGFM) „aus sicherer Quelle“ erfahren haben. 470 IS-Kämpfer, die aus Gefängnissen freigelassen wurden. Die IGFM warnt vor einer neuen Gefahr für die dort lebenden Einwohner, insbesondere für die Christen und Jesiden.

„Echt gruselig“, sagt Kizilyel. Er empfindet Ohnmacht, wenn er daran denkt. „Jeder Mensch, der klar denken kann, weiß doch wie gefährlich die sind.“ Es werde einige verbliebene Menschen in die Flucht treiben. „Und die internationale Staatengemeinschaft wird das ausbaden dürfen.“

Jesiden

Das Jesidentum ist eine monotheistische Religion, deren Wurzeln bis 2.000 Jahre vor Christus zurückreichen. Sie nahm Glaubenselemente, Riten und Gebräuche westiranischer und altmesopotamischer Religionen sowie von Juden, Christen und Muslimen auf. 

Jeside wird man ausschließlich durch Geburt, beide Elternteile müssen der Religionsgemeinschaft angehören. Niemand kann übertreten oder bekehrt werden. Bei Ehen mit Nicht-Jesiden verlieren Gläubige ihre Religionszugehörigkeit.

Irak, Lalish: Eine Frau entzündet ein Feuer im Shekadi-Schrein während der Feierlichkeiten des Sommer-Arbaeen-Eids / © Ismael Adnan (dpa)
Irak, Lalish: Eine Frau entzündet ein Feuer im Shekadi-Schrein während der Feierlichkeiten des Sommer-Arbaeen-Eids / © Ismael Adnan ( dpa )
Quelle:
DR