Jesiden haben nach Genozid keine Zukunft mehr im Irak

Fehlendes Vertrauen

Vor zehn Jahren begann der Völkermord an den Jesiden im Irak. Tausende Angehörige der Religionsgemeinschaft wurden von Kämpfern der Terrormiliz "Islamischer Staat" getötet. Bis heute suchen Überlebende nach ihren Angehörigen.

Autor/in:
Helena Kreiensiek
Jesidische Kinder im Nordirak / © Alan Ayoubi/NRC (dpa)
Jesidische Kinder im Nordirak / © Alan Ayoubi/NRC ( dpa )

Wenn Lisa Miara aus dem Fenster ihres Büros im Nordirak blickt, spielen dort unzählige Kinder. "Es gibt eine ganze Generation von Kindern, die nicht weiß, was es bedeutet, in einem Haus zu wohnen - mit einer richtigen Tür und richtigen Fenstern", sagt die Gründerin der irakischen Hilfsorganisation "Springs of Hope Foundation".

Mit ihren Mitarbeitenden bietet die gebürtige Amerikanerin in einem Flüchtlingslager bei Dohuk in der autonomen Region Kurdistan Programme für Geflüchtete an, unter ihnen viele Jesidinnen und Jesiden - Überlebende des Völkermords vor zehn Jahren.

Tausende Tote, Sklaven und Kindersoldaten

Am 3. August 2014 waren Kämpfer der Terrormiliz "Islamischer Staat" (IS) im Sindschar-Gebirge im Nordirak eingefallen, dem Hauptsiedlungsgebiet der religiösen Gemeinschaft. Bis zu 10.000 Jesidinnen und Jesiden wurden getötet. Eine genaue Zahl ist schwer zu ermitteln. Denn noch immer gibt es Massengräber, die nicht geöffnet wurden. Und noch immer gelten rund 2.600 Jesidinnen und Jesiden als vermisst. Die islamistische Miliz verschleppte und versklavte Frauen und Mädchen. Jungen unterzog der IS systematisch einer Gehirnwäsche und machte sie zu Kindersoldaten.

Auf seinem Höhepunkt besetzte der "Islamische Staat" etwa ein Drittel Syriens und 40 Prozent des Irak. Im Dezember 2017 erklärte Iraks Regierung den IS im Irak für besiegt. 2019 wurden in Syrien die letzten vom IS kontrollierten Gebiete zurückerobert. Experten warnen jedoch davor, dass die Terrormiliz nach wie vor im Untergrund aktiv ist.

Gefangenenlager in Syrien

Auch zehn Jahre nach Beginn Genozids sind die Jesidinnen und Jesiden in der Region Menschenrechtsverletzungen ausgesetzt. Amnesty International geht davon aus, dass hunderte Überlebende im Nordosten Syriens in Gefangenenlagern festgehalten werden, die eigentlich für Menschen mit Verbindungen zum IS geschaffen wurden.

Davon berichtet auch der irakische Journalist Khidher Domle, der selbst Jeside ist. Vor allem im Lager Al-Hol im Nordosten Syriens gebe es zahlreiche jesidische Frauen, die es nicht wagten, ihre Identität preiszugeben, sagt Domle. Manche von ihnen fürchteten sich nach den vielen Jahren beim IS zurückzukehren, aus Angst, nicht mehr von ihren Familien akzeptiert zu werden. Auch hätten viele Frauen Angst, von ihren Kindern getrennt zu werden, die nach Vergewaltigungen geboren wurden.

Fehlendes Vertrauen in irakische Institutionen

"Die meisten von uns haben das Gefühl, dass der Völkermord weitergeht, denn es gibt immer noch so viele, die in Gefangenschaftsind oder verschwunden", sagte Domle. Zwar würden vereinzelt fehlende Angehörige gefunden, doch die Fälle würden mit den Jahren immer weniger.

Hinzu kommt das fehlende Vertrauen in die irakischen Institutionen und die muslimische Mehrheitsgesellschaft. Die jesidischeGemeinschaft sei im August 2014 im Stich gelassen worden, sagt Domle. "Muslimische Nachbarn, die mit dem IS sympathisierten, wandten sich gegen uns, verrieten die jesidischen Bewohner an die Kämpfer oder griffen selbst zu den Waffen."

Größte Exil-Gemeinschaft in Deutschland

Viele Jesidinnen und Jesiden versuchten auszuwandern, sagt Domle. "Im Irak sehen sie für sich keine Zukunft mehr." Mit schätzungsweise mehr als 200.000 Jesiden lebt die größte Exil-Gemeinschaft in Deutschland. Etwa die Hälfte von ihnen wanderte nach den Verbrechen im August 2014 in die Bundesrepublik ein.

Zwar gibt es auch Jesidinnen und Jesiden, die sich über die Jahre arrangiert haben. Einige von ihnen hätten etwa kleine Geschäfte in der Nähe der Flüchtlingslager aufgebaut, sagt die Springs-of-Hope-Foundation-Gründerin Miara. Doch die Zukunft ist ungewiss. Zuletzt hatte die irakische Regierung angekündigt, Lager für Binnenvertriebene in den kurdischen Gebieten nicht mehr zuunterstützen - dort, wo die meisten Jesidinnen und Jesiden Zuflucht gefunden haben.

"Niemand möchte für immer in Zelten leben", sagt Miara. Die Lager auf Zwang zu schließen, wenn die eigentliche Heimat nicht sicher sei, sei jedoch auch keine Lösung. Die Überlebenden dürften auch zehn Jahre nach dem Völkermord nicht in Vergessenheit geraten.

Jesiden

Das Jesidentum ist eine monotheistische Religion, deren Wurzeln bis 2.000 Jahre vor Christus zurückreichen. Sie nahm Glaubenselemente, Riten und Gebräuche westiranischer und altmesopotamischer Religionen sowie von Juden, Christen und Muslimen auf. 

Jeside wird man ausschließlich durch Geburt, beide Elternteile müssen der Religionsgemeinschaft angehören. Niemand kann übertreten oder bekehrt werden. Bei Ehen mit Nicht-Jesiden verlieren Gläubige ihre Religionszugehörigkeit.

Irak, Lalish: Eine Frau entzündet ein Feuer im Shekadi-Schrein während der Feierlichkeiten des Sommer-Arbaeen-Eids / © Ismael Adnan (dpa)
Irak, Lalish: Eine Frau entzündet ein Feuer im Shekadi-Schrein während der Feierlichkeiten des Sommer-Arbaeen-Eids / © Ismael Adnan ( dpa )
Quelle:
epd