DOMRADIO.DE: Obwohl Sie immer eine Art Systemsprenger waren, haben Sie eine beachtliche Karriere innerhalb der Russisch-Orthodoxen Kirche (ROK) hingelegt.
Andrej Kurajev (Russisch-orthodoxer Erzdiakon, bekannter Theologe und Blogger): Ich war es ja nicht von Anfang an. Meine Laufbahn glich zunächst einer Bilderbuchkarriere. Mit 28 wurde ich zur rechten Hand des Patriarchen. Ich vertrat ihn auf Pressekonferenzen, schrieb seine Reden und füllte zum Teil stellvertretend seine Aufgaben aus. Mit 30 wurde ich Professor und Dekan an der theologisch-philosophischen Fakultät an der Geistlichen Akademie in Moskau. In diesem Sinne lief es beruflich sehr gut.
1991 wurde ich schließlich zum Diakon von Moskau und von ganz Russland befördert. (Anm. d. Red.: Kurajev trägt den Ehrentitel "Erzdiakon", welcher normalerweise einem Diakon für besondere Verdienste oder nach fünf Jahren Dienst verliehen wird. Im alltäglichen Gebrauch wird die Bezeichnung Diakon bevorzugt. In Analogie zum offiziellen Titel des Oberhaupts der Kirche "Patriarch der ganzen Rus" trug er zudem den Spitznamen "Diakon der ganzen Rus".)
Wenn man so will gleicht mein Schicksal ein wenig dem von Hans Küng, einem faszinierenden deutschen Theologen. Er war ein Reformer während des Zweiten Vatikanischen Konzils und hatte ein enges Verhältnis zu Kardinal Ratzinger, dem späteren Papst. Doch seine Ansichten galten damals als zu liberal, selbst für den frisch reformierten Vatikan.
DOMRADIO.DE: Ihr Verhältnis zu Patriarch Kyrill war dabei nicht immer einfach. 2011 haben Sie sich mit ihm wegen der Blasphemie-Reformen angelegt. Auf Ihrem Blog veröffentlichten Sie einen Skandal über die Homosexuellen-Lobby in den Reihen der Kirche. Sie mussten die Professorenstelle aufgeben. 2023 kam es zum endgültigen Bruch mit der russisch-orthodoxen Kirche. Haben Sie damit gerechnet?
Kurajev: Der eigentliche Bruch erfolgte schon 2011, wie Sie richtig beschrieben haben. Ich war dagegen, dass Patriarch Kyrill die Kirche in einen Sicherheitsapparat verwandelt. Kirchenkritiker sollten aufgrund des verschärften Anti-Blasphemie-Gesetzes viel leichter mit Haftstrafen belegt werden können. Ich habe mich damals klar positioniert und meinem Unmut öffentlich Luft gemacht. 2013, nach dem Protestauftritt der Punkband "Pussy Riot", trat das Gesetz dennoch in Kraft. Eigentlich war das der Anfang vom Ende meiner Kirchenkarriere.
DOMRADIO.DE: Doch zunächst wirkten Sie weiter in Russland. Erst nach Ihren kritischen Äußerungen zum russischen Krieg vor einem Jahr wurden Sie aus dem Priesterdienst entlassen. Die offizielle Begründung lautete "destruktive Tätigkeit" und "militärische Diskreditierung".
Kurajev: Der Patriarch hatte mein Urteil zwar schon vor dem Krieg abgesegnet, aber nicht offiziell bestätigt, sondern erst 2021. Er hat also ein Moratorium verhängt (Anm. d. R.: Aussetzung des Dienstes auf unbestimmte Zeit mit dem Ziel einer inneren Umkehr). Denn er wusste, dass ich mich im Fall einer Verurteilung an den Ökumenischer Patriarchen wenden würde. Ich hatte diese Option 2020 schon in Erwägung gezogen. Kyrill wusste also von meinem Gedankenspiel. Natürlich wollte der Moskauer Patriarch nicht, dass es zu einem solchen Präzedenzfall kommt, deshalb die Anordnung des Moratoriums.
Zu diesem Zeitpunkt hätte der Ökumenische Patriarch meinem Anliegen übrigens auch noch nicht nachkommen können, weil das Urteil ja noch gar nicht rechtskräftig war. Ich habe ihn gefragt.
Doch schon 2020 wusste ich, wenn es ernst wird, wenn zum Beispiel ein großer Krieg ausbricht, dann würde Patriarch Kyrill das Urteil geltend machen – denn unter dem Donner der Kanonen wird das Schicksal eines kleinen Diakons niemanden interessieren. Und so kam es dann auch.
DOMRADIO.DE: Woher wussten Sie denn von dieser Möglichkeit, das Patriarchat "wechseln" zu können?
Kurajev: Naja, ich bin Theologieprofessor (lacht). Wenn es einer wissen muss...
DOMRADIO.DE: Der Übertritt vom russischen zum griechisch-orthodoxen Ökumenischen Patriarchat ist aber doch unüblich, historisch einzigartig.
Kurajev: Das stimmt, ich bin zumindest der erste, der öffentlich darüber spricht. Den Antrag haben vor mir schon ein paar andere gestellt. Aber Kirchenkanons sind Kirchenkanons. Und nach den Kirchenkanons ist das erlaubt.
Es gab diesbezüglich Mitte des 19. Jahrhunderts eine große Kontroverse, die mit der Emigration aus Russland ins Ausland zu tun hatte. Damals gab es ebenfalls russisch-orthodoxe Kirchenmänner, die übergegangen sind. Sie lebten allerdings dann im Ausland. Damals erinnerten sie die Griechen an dieses Recht. Es waren also die russischen Immigranten, auf der Flucht vor den stalinistischen sowjetischen Patriarchen, die diesen Ausweg für sich entdeckten.
DOMRADIO.DE: Wie einfach oder schwer muss man es sich vorstellen, vom griechisch-orthodoxen Ökumenischen Patriarch von Konstantinopel, also gewissermaßen "auf der Gegenseite", aufgenommen zu werden?
Kurajev: Es ist nicht die Gegenseite. Das ökumenische Patriarchat ist ja Teil der orthodoxen Welt. Es ist hierbei wichtig zu erwähnen, dass der ökumenische Patriarch die Kirche in der Ukraine 2019 dabei unterstützt hat, unabhängig zu werden. Das Moskauer Patriarchat war erzürnt darüber. Ich habe dann ein Buch über die Geschichte zwischen Moskau und der Ukraine geschrieben (Anm. d. Redaktion, der Buchtitel lautet "Byzanz gegen die UdSSR. Krieg der Phantomreiche um die Kirche der Ukraine"). Darin legte ich dar, dass der Ökumenische Patriarch gute Gründe für die Unterstützung hatte. Wie sich später herausstellte, war dieses Buch nützlich für mich. Damals ahnte ich natürlich noch nicht, dass ich diesen Weg gehen muss.
Sehen Sie, es handelt sich bei dem Konflikt zwischen Moskau und dem Ökumenischen Patriarchat in Istanbul um einen einseitigen Streit. Patriarch Kyrill redet schlecht über Bartholomaios, es kommt aber keine Antwort. Patriarch Kyrill verkündet den Abbruch der Beziehungen mit dem ökumenischen Patriarchat, das ökumenische Patriarchat tut das im Gegenzug nicht. Deswegen gibt es auch den Übertritt zur "Gegenseite" nicht. Das Ökumenische Patriarchat von Konstantinopel ist die Mutterkirche der russisch-orthodoxen Kirche. Zurzeit duldet sie die Schikanen ihres pubertierenden Teenagers. Das ist offenkundig.
DOMRADIO.DE: Was war der Auslöser für Sie, ins Exil zu gehen?
Kurajev: Im Dezember 2023 hat Putins Justiz mich als ausländischen Agenten eingestuft. Das ist in Russland keine gute Sache, es erschwert einem das Leben auf unnötige Weise. Damit geht ein sofortiges Arbeitsverbot einher und es gibt viele weitere Schwierigkeiten. Zudem meinte ein hochrangiger Vertreter des Patriarchats, es sei an der Zeit, nicht nur ein Verwaltungsverfahren gegen mich einzuleiten, was eine Geldstrafe bedeuten zur Folge hätte, sondern ein strafrechtliches Verfahren mit der unmittelbaren Aussicht auf eine Gefängnisstrafe. Aus diesem Grund musste ich ausreisen und eine Möglichkeit suchen, in Europa unterzukommen.
DOMRADIO.DE: Warum sind Sie nach Prag gegangen?
Kurajev: Ich liebe diese Stadt. Ich habe meine Kindheit hier verbracht.
DOMRADIO.DE: Wie muss man sich Ihre aktuelle Situation vorstellen? Was machen Sie?
Kurajev: Ich verbringe viel Zeit am Computer. Ich konnte außerdem ein Zehntel meiner Bücher mitnehmen – es sind nur 700 Bücher, aber immerhin. Ich lese viel, schreibe, tausche mich mit Menschen aus, spreche mit Medienvertretern. Ich tue also das gleiche was ich in Moskau tun würde, nur dass es weniger gefährlich ist – für mich und für diejenigen, die mit mir in Kontakt stehen.
DOMRADIO.DE: Und wie genau ist Ihre Verbindung zu Litauen? Dort haben Sie kürzlich eine Messe gefeiert, hieß es in Medienberichten.
Kurajev: In Tschechien gibt es – ähnlich wie in Polen – eine eigene orthodoxe Kirche, die zwar zahlenmäßig nicht viele Mitglieder hat, aber kirchenrechtlich mit anderen orthodoxen Kirchen gleichgestellt ist. Die nächstgelegenen Niederlassungen des ökumenischen Patriarchats wären Ungarn, Österreich, Deutschland, Benelux (Belgien, Niederlande und Luxemburg), aber an die russische Tradition kommt Litauen am nächsten dran. Aus diesem Grund bat ich Bartholomaios, mich in dem dortigen Exarchat einzusetzen.
In der Praxis ist das logistisch etwas kompliziert. Um die Messe zu leiten, muss ich dorthin hinfliegen. Das geht nur ein paar Mal im Jahr. Hinzu kommt, dass ich gesundheitlich sehr eingeschränkt bin. Ich bekomme eine Invalidenrente, kann nicht laufen und so weiter. Unabhängig von den kirchenpolitischen Fragen, kann ich die Messe also selten feiern. Aber ich nehme das aus Gottes Hand. In Tschechien würde es mir wohl ohnehin nicht erlaubt sein zu dienen, da die tschechische-orthodoxe Kirche mit der Moskauer Kirche eng verbunden ist.
DOMRADIO.DE: Von Moskau wird die Gültigkeit Ihres neuen Amts aber bestritten. Was sagen Sie dazu?
Kurajev: Das stimmt, aber da gibt es vieles, was Moskau nicht anerkennt und später dann plötzlich unter anderen politischen Umständen doch anerkannt hat. Auch hier brauche ich nur die russischen Emigranten anführen, die sich Mitte des 20. Jahrhunderts unter die Konstantinopelsche Leitung gestellt haben und später von Moskau akzeptiert wurden. Damals gab es Wechsel in beide Richtungen, es war kompliziert, aber Moskau hat sie letztendlich anerkannt.
DOMRADIO.DE: Man hat von einigen weiteren russisch-orthodoxen Priestern gehört, die nun ebenfalls im Dienst des Ökumenischen Patriarchats stehen, Johann Kowal, Alexej Uminski. Wie viele solcher Fälle sind Ihnen bekannt?
Kurajev: Es sind zehn Geistliche in Litauen. Das ist die größte Gruppe. Man muss im Ausland leben, um diese Möglichkeit des Übertritts zu nutzen. Das ist der Knackpunkt. […] In Russland gibt es wohl niemanden.
Es würde auch keinen Sinn machen, als Geistlicher innerhalb Russlands vom ökumenischen Patriarchat in den priesterlichen Rang wiedereingesetzt zu werden. Das würde Putins Gesetzgebung das niemals erlauben. Selbst wenn es heimlich geschehen würde, als eine Art Untergrundkirche. Heute gibt es GPS-Tracker auf Handys. Sonntägliche Versammlungen würden sofort auffallen.
Es haben aber nicht viele Priester die Möglichkeit auszuwandern. Das ist eine Frage des Geldes. Und auch Europa reißt sich nicht gerade darum, diese Menschen aufzunehmen.
DOMRADIO.DE: Sind Sie untereinander vernetzt?
Kurajev: Ja, wir sind in Kontakt. Mal enger, mal sporadischer.
DOMRADIO.DE: Was hat Ihr Weggang in der russischen Gesellschaft ausgelöst? Sie sind bekannt und beliebt, nicht nur in der kirchlichen Szene… Bekommen Sie da Rückmeldungen?
Kurajev: Alle Massenmedien Russlands haben darüber berichtet, darunter auch die staatlichen, die das eher kritisch kommentiert haben. Das ist bedeutsam. Normalerweise wenn ein Mensch "geht", wird er quasi "gecancelt". Es heißt dann: Deine Zeit ist vorbei, du wirst nicht gebraucht und so weiter. Bei mir war es anders. Einige Medien haben neutral berichtet, einige negativ. Aber es wurde aktiv berichtet. Das an sich war schon eine wichtige Tatsache. Die Menschen werden von den Massenmedien stark beeinflusst. Übrigens auch von kirchlichen Autoritäten. Ich bekomme täglich viele Hassnachrichten. Es gibt zahlreiche Hater.
Kürzlich habe ich auf dem YouTube-Kanal von Michail Chodorkowski (Anm. d. Red.: Ex-Oligarch, Kremlkritiker und Aktivist) ein Interview gegeben. Über 1000 Kommentare hat das Video jetzt. Die ersten sind sachlich und freundlich. Dann beteiligt sich immer so eine anonyme Gruppe von Usern, die – wie drücke ich es nett aus – mit Scheiße um sich schmeißen.
DOMRADIO.DE: Haben Sie manchmal Angst vor Konsequenzen?
Kurajev: Es kann Konsequenzen haben, klar. Das letzte Gerichtsverfahren war im Juni dieses Jahres in Moskau, also schon während meiner Abwesenheit. Es ging mal wieder um eine Geldstrafe. Aber ich habe ja kein Einkommen in Moskau. Auch meine Invalidenrente wird im nächsten Monat auslaufen, da eine Weiterbewilligung in Russland beantragt werden müsste. Ich werde solche Strafen in Zukunft kaum bezahlen können. Das bedeutet, es werden härtere Sanktionen und Strafen angedroht werden. Und das betrifft nur diese eine Anklage. Theoretisch können weitere Anklagen dazukommen. Die Rückkehr nach Russland wird damit immer unwahrscheinlicher und gefährlicher.
Aber auch in Europa gibt es nicht wenige "Putin-Versteher". Sie suchen prominente Russen im Exil auf und bedrohen sie. Aus diesen Gründen versuche ich möglichst wenig Informationen über meinen genauen Aufenthaltsort publik zu machen.
DOMRADIO.DE: Trotzdem äußern Sie sich regelmäßig in der Öffentlichkeit, schreiben offen in ihrem Blog. Sie wollen nicht schweigen und offenbar nicht vergessen werden…
Kurajev: Wissen Sie, ich glaube an die Kultur Europas. Sie ist im Stande Steine zu verdauen. Ein Besuch in Köln im April dieses Jahres hat diese Annahme bestätigt. Ich hielt gerade einen Vortrag in den Räumen einer evangelischen Gemeinde. Kurz nachdem ich begonnen hatte, kam ein Störer in den Saal. Er rief politische Parolen, etwa "Free Palestine". Es hatte jedenfalls nichts mit unserem Thema zu tun. Eine Frau sprach den Aktivisten an, beruhigte ihn und brachte ihn dazu zu gehen. Der Umgang mit aggressiven Angriffen hat mich am modernen Europa schon immer beeindruckt.
DOMRADIO.DE: Würden Sie sagen, dass alle Priester auf Linie mit Kyrill sind, was die Unterstützung des Krieges angeht?
Kurajev: Ja, es gibt vielleicht eine Minderheit, die tief im Inneren nicht damit einverstanden ist. Ich will nur daran erinnern, dass es auch viele ethnische Ukrainer in der russisch-orthodoxen Kirche in Russland gibt. Ich schätze diese Gruppe auf 15 oder 20 Prozent. Aber bis auf Johann Kowal hört man nichts an Protest.
DOMRADIO.DE: Warum sagen so wenige von ihnen etwas?
Kurajev: Vor zwei Jahren hätte ich gesagt, aus Angst. Heute sieht meine Antwort anders aus. Es ist so: Menschen haben verschiedene Bedürfnisse. Ein wichtiges Bedürfnis ist die Gemeinschaft oder Zugehörigkeit. Damit verbunden ist eine Art Selbstrechtfertigung.
Ich würde das so erklären: Zunächst waren sie möglicherweise entsetzt. Schließlich sind es die Städte ihrer Verwandten, die Dörfer, in denen sie als Kind ihre Ferien verbracht haben, wohin die die russischen Raketen fliegen. Sie waren also erschrocken über den Krieg, aber wussten, dass sie das nicht laut äußern können, wegen der Arbeit. Das wäre ein zu großes Risiko. In der Ukraine wartet ja auch niemand auf sie. Also mussten sie mit der Zeit die militärischen Aktionen akzeptieren. Sie mussten für sich begründen, warum sie schweigen und sogar das "Gebet für die heilige Rus" beten (Anm. d. Redaktion: Patriarch Kyrill hat das Gebet anlässlich des russischen Angriffskriegs verordnet. Darin wird der Sieg der russischen Armee herbeigesehnt. Das mittelalterliche Großreich Rus gilt als gemeinsamer Vorläuferstaat von Russland, der Ukraine und Belarus.). Sie wollten sich also selbst davon überzeugen. Das funktioniert ganz einfach. Man sagt: Früher hatte ich andere Ansichten, aber dann hat man mir das gesagt, oder dann habe ich im Fernsehen jenes gesehen und jetzt habe ich erkannt, dass Putin Recht hat. Ich habe also neue Informationen erhalten und meine Meinung geändert. Das behaupten sie tatsächlich. Ihr Gewissen scheint das mitzumachen. Die Frage ist natürlich, ob diese Menschen den Krieg heimlich am Küchentisch verurteilen. In den Predigten kommt es jedenfalls nicht vor.
In der Öffentlichkeit trägt die Mehrheit der Geistlichen den Krieg mit, erst recht, weil der Patriarch ihn als Heiligen Krieg inszeniert. Im 21. Jahrhundert hätte man das nicht für möglich gehalten, aber der Patriarch hat einen Kreuzzug angekündigt. In der Ukraine kämpfe die Armee gegen Homosexuelle.
DOMRADIO.DE: Was genau meinen Sie damit? Die Vielfalt Europas?
Kurajev: Genau, den Leuten wird eingeflößt, dass die bösen Schwulen uns die Kinder wegnehmen wollen, dass wir alle queer werden müssen. Der Patriarch spricht das nicht so deutlich aus, sondern es heißt dann lediglich, wir müssen die traditionelle Familie beschützen, unsere traditionellen Werte bewahren. Aber was verbirgt sich denn dahinter? Er meint damit die heterosexuellen Ehen.
DOMRADIO.DE: Sprechen wir noch über den russischen Präsidenten. Er lässt sich oft in seiner Hauskapelle ablichten, etwa beim Gebet. Ist das mehr als nur Show?
Kurajev: Ja, ich denke schon, dass es mehr ist. Er glaubt vermutlich selbst von sich, der Messias zu sein, der Russland erlöst – oder vielleicht auch die ganze Menschheit. Putin glaubt nicht an Gott. Er glaubt an ein Gottlein, also an einen kleinen Gott, der ihn zu seinem auserwählten Werkzeug gemacht hat. Ich denke, dass sein Glaube auf diese Weise begrenzt ist.
DOMRADIO.DE: Was würden Sie sich von der internationalen Kirchengemeinschaft wünschen, zum Beispiel auch von der römisch-katholischen Kirche?
Kurajev: Mehr Aufmerksamkeit, vor allem für die theologische Rechtfertigung des Krieges. Diese findet in Russland und in der Ukraine gleichermaßen statt. Auf beiden Seiten folgt die religiöse Rechtfertigung vergleichbaren Mustern. Darin sehe ich ein großes Problem. Denn in Russland gibt es oppositionelle Priester, in der Ukraine nicht. Das ist relevant, denn in der gegenwärtigen orthodoxen Welt scheint es keine Pazifisten zu geben. Nicht mal über mich könnte ich sagen, dass ich einer bin. Ein Pazifist ist ja jemand, der jeglichen Krieg verurteilt. Auch Augustinus unterschied zwischen dem gerechten und dem ungerechten Krieg. Ich würde mir wünschen, dass christliche Denker diese theologische Rechtfertigung stärker hinterfragen und analysieren würden. Es ist wichtig festzuhalten, dass ein Krieg niemals ein christliches Konzept haben kann.
Wenn Russland irgendwann erkennen sollte, dass der Krieg falsch war und die anti-kriegerische Position der wenigen oppositionellen Priester zur Mehrheitsmeinung wird, so wie nach der Nazi-Zeit in Deutschland bei den antifaschistischen Pfarrern, dann muss es diese Reflektionen geben.
In der Ukraine wird es kaum Analysen zur Legitimierung des Heiliges Krieges geben, weil es um die Verteidigung des Landes geht. Wenn die Ukraine irgendwann mal zur Europäischen Union gehören würde, müssen diese spirituellen Stacheln entfernt werden. Das müsste in ganz Europa geschehen.
Der Generalsekretär des Weltkirchenrat (Ökumenischer Rat der Kirchen) hatte ja auch schon bei Kyrill erfragt, wie seine Aussagen zum Krieg zu verstehen sind. Eine Fortsetzung des Dialogs scheint es nicht gegeben zu haben. Aber die Anfrage allein war schon ein gutes Zeichen. Der Druck der katholischen, evangelischen und ökumenischen Akteure sollte unbedingt weiter bestehen bleiben – als Mahnung daran, dass wir andere, christliche Werte haben.
Die Übersetzung ist gekürzt und zur besseren Verständlichkeit sprachlich angepasst.